Jazz. Wolfgang Dahlke

Jazz - Wolfgang Dahlke


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ist. Vor allem morgens, wenn er nach spirituellen und durchzockten Nächten nicht aus dem Bett findet. Lucius hat bemerkt, dass er genau die Zeit verschläft, in der früher die Schule stattfand, und nicht vor Ende der sechsten Stunde aufsteht. Gunther setzt gern hohe Beträge zum Beispiel darauf, dass er spätestens morgen ganz mit dem Alkohol brechen wird – »brechen« ist gut, sagt Lucius, mir ist auch immer kotzübel – , aber das könnte man doch eigentlich heute nochmal so richtig feiern. Er wettet um einen Hunnie. Und es gibt Freunde, so nennt er seine Zechgenossen, die gern bei solchen Beträgen mit ihm einschlagen und sich das Geld prompt ausbezahlen lassen.

      Wenn Gunther in seiner überschwänglich fröhlichen, optimistischen und ganz selbstvergessenen Saufstimmung ist, ruft er die Freundinnen von Kollegen an, von denen er weiß, dass sie gerade auf Tour sind oder irgendwo außerhalb einen Auftritt haben. Gelegentlich hat er damit wirklich schon Glück gehabt. Ein Bandkumpel, der ihn beobachtet hat, wie er »Bräute anbaggert«, dabei säuselt und schmalzt und sich mit weicher, rhythmischer Arschrotation vorwärtsschleimt – »wie son’n Entenarsch, sag ich dir« – hat ihm den Titel »Ganter Sax, der Mann vom Abschleppdienst« verliehen. Er raspelt nicht, so hatte Lucius es beschrieben, Süßholz, wie die verbrauchte Metapher illustriert, sondern hackt Anmachholz.

      Gunther hofft darauf, dass er eines Morgens aufwacht und entweder im Lotto gewonnen hat, plötzlich unwahrscheinlich gut Saxophon spielen kann oder wenigstens einen Job findet, der viel Geld bringt und wo keiner merkt, dass er nichts tut. Im Vertrauen darauf, dass Nomen Omen sei, hat er sich zuerst einmal im Freundeskreis den Namen Fritz zugelegt. So heißt sein Vater, ein erfolgreicher Arzt für alle gemeinen Krankheiten, der in einem reichen Kurort vornehmlich bei älteren Damen den Rahm abschöpft, genauer: das Fett absaugt.

      Die Taufe für Fritz hatten sie, auch Lucius, in einem Guinessbuch-verdächtigen Flens-Marathon abgefeiert, bei dem sie sich die Bierkästen von einer Tag-und-Nacht-Tanke per Taxi bringen ließen, wenigstens zwanzig Gramm Grüner Afghan in blauen Nebel aufgingen und in dessen Anschluss Lucius einen Kreislaufkollaps erlitt, als er am dritten Morgen sechs Aspirin, einige Tassen Kaffee, einen Rollmops sowie eine Flasche Bier zu sich nahm, um nüchtern zu werden oder wenigstens diesen dröhnenden Kopfschmerz zu überwinden. Fritz arbeitet entgegen jeder pessimistischen Vorhersage seit einiger Zeit aushilfsweise als Taxifahrer. Gelegentlich fährt er Theater- und Kleinkunstgruppen über Land. Im Freundeskreis nennt man ihn Fritz von Tour’n und Taxis. Den Spitzenplatz in der Wirtschaft: gleich vorne an der Theke, hat er noch immer, wo man ihn »Senator Fullbreit« nennt, und in der er jede Nacht gegen vier, halb fünf aufkreuzt, über zu hohe Steuern, die amerikanische Kolonialpolitik, die Wiedervereinigung, den Extremistenerlass von 1972, das Magister-Prüfungsamt und seine Rechnung lamentiert. Zwischendurch einmal hat er eine Zeit lang alle denkbaren BtMs verdealt, was ihm innerhalb seiner Klientel den Namen »Graf Berge von Trips« einbrachte. Lucius glaubt, dass Gunther sich offiziell Fritz nennt, weil er einen falschen Pass besitzt. Leute aus Gunthers Dunstkreis behaupten, er sei in den 70ern vor der Bundeswehr auf der Flucht gewesen und mit den gefälschten Papieren aus Berlin zurückgekommen, weil er dort als Musiker keine Chance hatte, andere, dass er wegen eines Rauschgiftdelikts in Indien von Interpol gesucht wird. Ganz sicher weiß Lucius nur, dass Gunther seinen Führerschein für immer los ist, nachdem er mehrmals betrunken in Verkehrskontrollen geraten war.

      *

      Er legt sich vor dem Auftritt kurz im Hotelzimmer aufs Bett, angezogen, aber mit gelösten Schnürsenkeln. Wenig später sucht er in seinem Tourset, einem elastischen, schmuddelig-hellblauen Kasten mit Reißverschluss, das er schon der lächerlichen Bezeichnung »Kulturbeutel« wegen diesem Spießbürgerutensil vorzieht, nach dem Kontaktlinsenbehälter. Er ist verschlossen, aber die Linsen sind nicht darin.

      Lucius hat diese Schrecksekunden schon oft erlebt. Er kann sich nicht erinnern, wo er die Linsen herausgenommen hat. Er geht vom Hotelzimmer in beide Richtungen den langen Flur entlang. Er sucht im Waschbecken, auf der Ablage unter dem Spiegel, neben der Toilette, vor der Dusche. Auch das kennt er: das kaum hörbare, fragil spitze Knackgeräusch, wenn man mit harten Sohlen die kleinen gewölbten Glashuckel zertritt, während man auf dem Waschbeckenrand gerade einen Wassertropfen mit der Fingerkuppe aufzunehmen versucht. Und jedesmal hatte er sich geärgert, dass er Schuhe trug. Und jedesmal hatte er sich vorgenommen, das nächste Mal daran zu denken.

      Er dreht sich um, will sich die Hände abtrocknen, als er dieses zweite Knacken vernimmt. Jetzt tut es weh, als breche ein kleiner harter Knochen im Ohr. Er zieht die Schuhe aus, streift mit der Hand über die Sohlenränder, gibt sich einige Minuten seiner fassungslosen Verzweiflung und dem von ihm sehr geschätzten »Heute-geht-mir-alles-daneben-Gefühl« auf dem Klode­ckel sitzend hin. Dann nimmt er die zertretenen Linsenleichname behutsam auf. Sie sind beide in der Mitte gespalten, aber die Teile hängen noch aneinander. Er setzt sie auf die Hornhäute, vielleicht geht’s ja doch noch. Die Augenkappen, wie Spinnweben aus gebrochenem Horn zerfasert, verfärben sich zusehens gelblich, Minuten später sind sie braun. Tote Linsen verfaulen und werden dunkel. Das weiß er jetzt. Als er mit schweißnassen Haaren und scharf stinkendem Unterhemd erwacht, sieht er sofort im Behälter nach. Die linke ist drin, die rechte kann er tatsächlich nicht fühlen. Wie sollst du eine verlorene Linse finden, wenn du nur eine hast, um sie beim Suchen aufzusetzen!

      Das Konzert spielt er einäugig, die Noten kann er ohnehin auswendig. Als Lucius später, in einer Pause, die linke Linse auch herausnimmt, weil sie heute schlecht sitzt und ständig beschlägt, merkt er, dass er beide auf einem Auge hat. Er hatte sie in einem Fach übereinandergelegt, und sie waren zusammengeklebt. Er erzählt Stan die Geschichte, weil der ihm bei der Suche geholfen hatte, und er glaubt, ihm nach der Aufregung die erleichternde Nachricht schuldig zu sein. Am liebsten hätte er es auch ihm verschwiegen. Er blamiert sich nicht gern.

      Stan, wahrscheinlich Ende dreißig, ist polnischer oder tschechischer Abstammung, wurde in Istanbul geboren und hat Kontrabass, was ungewöhnlich ist, fast ausschließlich autodidaktisch gelernt. In Hannover gab es zu seiner Zeit keine guten Bassisten, bei denen man Unterricht hätte nehmen können. Er ist groß und schlaksig, seine makromelitisch anmutenden riesigen Gliedmaßen sausen über die Bassmensur, als sei es eine spanische Gitarre. Infolge seiner stoischen Ruhe spielt er ihn allerdings meist sehr simpel und getragen, immer nur Grundton, Quinte, sagt er, das reicht. »Good enough for Jazz!«

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