Die Suizid-App. Peter Raupach
kommen Sie doch rein Herr… Sie wurden uns schon angekündigt. Na nicht so schüchtern! Aber natürlich können Sie auch dort erst mal stehen bleiben. Wir halten das immer so. Jeder soll am Anfang so viele Schritte machen, wie er persönlich mag.“
Felix schloss die Tür hinter sich und stand nun unschlüssig im Raum, dabei schaute er etwas angestrengt auf den Sprecher und die übrigen Anwesenden.
„Also ich bin Felix…und wollte einfach mal vorbeischauen“, stellte er sich vor.
Acht Leute saßen auf Stühlen, die im Halbkreis aufgestellt waren.
Nur wenige drehten sich kurz um. In der Mitte stand eine Musikanlage. Einige hatten Kopfhörer auf, andere schrieben etwas auf kleine Kärtchen.
„Und ich bin hier der, wie sagt man es, ja ich bin hier der Moderator, mein Name ist Reißmann und von Beruf bin ich Diplom-Psychologe. Natürlich benötigt eine Selbsthilfegruppe keinen Leiter, deshalb der Begriff Moderator.
Übrigens, indem Sie die Tür gerade hinter sich geschlossen haben, zeigen Sie der Umwelt ihren Entschluss, sich einer Gruppe anzuschließen. Sie zeigen noch mehr! Sie zeigen, dass Sie bereit sind, sich über das eigene Leiden zu informieren und sich das Ziel zu setzen, nicht an der bisherigen Starre festzuhalten. Das ist bereits der bedeutendste Schritt zur Heilung.“
Reißmann stand auf und ging zu Felix, bot ihm die Hand an. Felix schlug ein.
„Willkommen!
Hier nehmen Sie bitte meinen Stuhl, ich hole in der Zwischenzeit Ihr Aufnahmeformular.“
„Aufnahmeformular?“,fragte Felix erstaunt während er sich zu den anderen setzte.
„Ja, ja, nichts Schlimmes. Nur ein wenig Bürokratie. Wir verdanken unsere Möglichkeiten hier einer Stiftung, die sich wiederum aus Geldern einer kleinen, aber umso großherzigeren Anzahl an Unternehmen der forschenden Arzneimittelindustrie speist. Wir nutzen das Geld zum Beispiel zur Anschaffung der Tontechnik, zur Deckung der Mietkosten, sicherlich wird damit auch mein Honorar aufgebracht. Ich kann Ihnen versichern, dass wir Ihnen hier mit größter Offenheit begegnen. Im Gegenzug nehmen wir bei jedem Neuankömmling kurz seine Ausgangssituation auf, ein paar persönliche Daten, welche Medikamente er einnimmt, von wem er die Medikamente erhalten hat, welche Vorerkrankungen er und seine nahen Angehörigen hatten. Dann haben wir noch einen kleinen Psychotest. Da kreuzen Sie zwischen 0 und 4 einfach das Kästchen an, was Ihnen am meisten zusagt. Ähm, okay, manche haben damit so ihre Schwierigkeiten, denn der ist in Englisch. Das ist nun mal so, bei modernen Studien. Aber natürlich können Sie mich fragen, wo Sie nicht weiterkommen. Wie gesagt: Nichts Schlimmes. Sie können das alles in Ruhe zu Hause dann ausfüllen“, meinte Reißmann und war schon aus der Tür.
Felix hielt die Formulare unschlüssig in den Händen und hatte im Moment keine Lust, sich darum zu kümmern. Stattdessen musterte er die im Halbkreis sitzenden Leute. Ein großer kräftiger Mann hatte Kopfhörer auf und schien Musik zu hören. Drei Frauen lauschten konzentriert einer sehr jungen Frau, die unter Tränen über ihr bisheriges Leben berichtete.
Felix nahm seinen Stuhl und rückte näher in den Halbkreis. Er nickte, ohne jemanden direkt anzuschauen und grüßte: „Bin der Felix.“ Keine der Frauen beachtete jedoch Felix groß. Nur sein neuer Sitznachbar, hielt ihm die Hand hin und sagte leise: „Willkommen im Club, ich bin der Roland.“
Die junge Frau schaute hoch, schnäuzte sich kurz die Nase und erzählte dann weiter mit gleichbleibend leiser Stimme:
„Tja, was soll man zu solchen Gefühlen weiter sagen. Ich trage sie seit zehn Jahren mit mir rum. Ich habe Geschichte auf Lehramt studiert und direkt vor meinem Staatsexamen standen alle schlechten Sachen dieser Welt plötzlich Schlange vor meiner Tür. Ich bekam eine Hausstaub- und Tierhaarallergie, ich nabelte mich von meinem Elternhaus ab, weil ich die ständigen Belehrungen nicht mehr ertragen konnte, mein Freund verließ mich wegen einer anderen, ich musste HartzIV beantragen, weil die Eltern nicht mehr zahlten und dann kam der Prüfungsstress dazu. Was willst du mehr? Super, oder? Was folgte, war der erste Nervenzusammenbruch. Den zweiten hatte ich im Referendariat. Ich merkte, dass ich Kinder hasste, aber da war alles schon zu spät. Super, oder? Alles verloren, geil, nicht?
Ich werde, wenn ich aus der Misere wieder rauskomme, einen normalen Beruf erlernen, vielleicht Ergotherapie…aber keine Kinder!
Jetzt habe ich die neuen Tabletten bekommen, viel Sinn sehe ich da aber nicht drin…“
In der Pause gingen die Raucher in den Hof, der weitläufig von einer zwei Meter hohen Efeu begrünten Steinmauer umfasst wurde.
Roland, der Sitznachbar von Felix, blieb auch diesmal in der Nähe von Felix.
Während Felix das Aufnahmeformular studierte, entpuppte sich Roland als Kettenraucher.
Felix kam an eine bestimmte Stelle im Formular und las die Frage halblaut vor:
„Welcher Arzt übergab, beziehungsweise verschrieb Ihnen das oben genannte, die oben genannten Medikamente? -
Komisch hier sind ja gleich zehn Ärzte schon eingetragen, man soll bloß noch ankreuzen? Wie denn das? Was macht jemand, der von einem anderen Arzt kommt?“
Roland zuckte mit den Schultern und meinte:
„Ja, ist schon so hier, alles etwas elitär, kreuze einfach an, dann hast Du Ruhe. Die wollen doch bloß alle was abrechnen…“
„Na gut, okay, aber hier geht’s jetzt um: physical well-being, social/family well-being, additional concerns, emotional well-being und funktional well-being…das ist ja der Hammer, da brauche ich ja zwei Stunden dafür, um alles zu beantworten! Okay, zumindest die Fragen unter „physical well-being“ kann ich ja schon mal angehen, also: I have lack of energie…da kreuze ich die Ziffer 2 an, mit „Somewhat“.
Dann: Because of my physical condition, I have trouble meeting the needs of my family…mhh, da kreuze ich die Ziffer 3 an, mit „Quite a bit“…Ach ich geb’s doch auf. Ich mache das später zu Hause.“
„Was nimmst Du eigentlich zur Zeit?“, fragte Roland, während er den kläglichen Rest seiner Zigarette an der Hauswand ausdrückte.
„Du meinst, welches Medikament ich nehme? Ich nehme zurzeit gar nichts. Aber mein Arzt hat mir so‘n Zeug mitgegeben. Das Mittel hat keinen richtigen Namen. Es war eine Zahl…warte, ich hab‘s, 463, ja genau. Alles ohne Beipackzettel. Ich glaube, die Ärzte halten uns alle für Idioten. Schluck und frage nicht, so ist deren Devise“, antwortete Felix.
„Du, die Zahl, die habe ich schon mehrfach gehört. Hier waren schon eine Reihe von Typen. Jeder von denen hatte schon mindestens das fünfte Präparat. Dann tönten sie, dass sie neuerdings 463 bekommen hätten. Ja und was soll ich Dir sagen, keiner kam das nächste Mal wieder zur Gruppe. Ich habe keinen von denen je wieder hier gesehen. Vielleicht hast Du Schwein und bei Dir klappt‘s ja auch mit dieser Wunderheilung“, meinte Roland, während er sich eine neue Zigarette anzündete.
„Eh, Roland, nicht noch eine, wir müssen wieder rein.“
„Na gut, aber eins machen wir noch. Hier!“, sagte Roland und hielt Felix grinsend einen Flachmann mit Schnaps vor die Augen. Aus welcher Tasche er den gezogen hatte, blieb für Felix ein Rätsel.
„Okay, aber nur zwei Schluck.“
Von da an waren die beiden in jeder Pause die Letzten.
Bei den folgenden Treffen trat genau das ein, was auch Roland gegenüber Felix schon angedeutet hatte.
Es kamen Leute zur Selbsthilfegruppe, die nach anfänglichem Zögern begannen, sich vor völlig fremden Menschen zu öffnen und über ihre Probleme zu reden. Die gerade aktuelle Medikation spielte dabei immer eine große Rolle. Relativ schnell wurde Felix so etwas wie ein Spezialist in Sachen Nebenwirkungen der verschiedensten Arzneimittel gegen eine Depression. Aber er wusste auch, dass das alles für ihn nur graue Theorie war, denn er selbst nahm bisher nichts.
Leider kamen keine Leute zu Wort, die das Medikament mit der Bezeichnung 463 eingenommen hatten. Es waren schlichtweg