Die Suizid-App. Peter Raupach
fällt…aber ich kann nicht anders. Ich bin ein Mensch, der mit offenem Visier kämpft…und lassen Sie mich Ihnen Eines versichern, ich mag Sie, weil Sie so ehrlich sind. Deshalb haben Sie mein Wort. Ich werde mich beim Controller 463 dafür einsetzen, dass Sie unseren Beratungszuschlag in Höhe von zehn Prozent erhalten…völlig unkompliziert, ohne zusätzliche Forderungen und Sicherheiten. Ja! Ja, das mache ich für Sie!
Ist das ein Wort, Frau von Bärenfels?“
„Ja,…okay, machen Sie das bitte“, antwortete Maria fast flüsternd und drückte den Namen Berger auf ihrem Touchscreen mit dem Daumen weg, fast so, als würde sie ein Insekt zerquetschen.
Maria löste sich aus ihrer Starre und ging zur Personaltoilette. Sie nahm das auf dem Waschbecken stehende Desinfektionsspray und sprühte mehrfach auf ihr Handy, um es schließlich kurz darauf doch unter heißem Wasser abzuspülen.
Berger war während des Telefonats die ganze Zeit durch sein Arbeitszimmer gelaufen. Für die tief stehende Abendsonne, die durch das Villenfenster zartrote Strahlen warf, hatte er keinen Blick, geschweige denn einen Gedanken geopfert. Blanke Panik hatte ihn während des Gespräches gepackt. Sein Anzughemd klebte noch immer auf der Brust. Doch er war sich sicher, dass seine Gesprächspartnerin von seiner Schwäche nichts mitbekommen hatte.
Nun warf er sich völlig erschöpft in seinen Arbeitssessel und stierte ins Nichts.
„Liebling kommst Du? Du weißt hoffentlich, dass wir Karten haben?“, hörte er seine Frau aus dem Ankleidezimmer rufen. Erst jetzt merkte er, dass die Tür des Arbeitszimmers nur angelehnt war.
„Ja, ja sofort…ich muss nur noch ein Telefonat machen“, antwortete er laut zurück und bemühte sich, möglichst unbeschwert zu klingen.
Doch seine Frau Ivon stand, bekleidet mit einem hellgelben Abendkleid, einen Moment später schon in der Tür und meinte tadelnd:
„Ich hätte es mir denken können. Jedes Mal dasselbe mit Dir. Wir kommen nie pünktlich weg. Heute lasse ich Dir das aber nicht durchgehen. Du telefonierst bitte im Auto. Wofür haben wir eine Freisprechanlage? Mach Dich bitte sofort fertig!“ Dann ging sie erhobenen Hauptes wieder in ihr Ankleidezimmer.
Er liebte seine Frau viel zu sehr, als dass ihn die kleinen Vorwürfe und die fordernde Art und Weise wirklich getroffen hätten. Auch die große Liebe zu dieser Frau war letztlich eine Triebfeder für sein Engagement in der UCD.
Er konnte und wollte dieser Frau nichts abschlagen. Wenn sie glücklich war, war er es auch. Deshalb durfte und sollte Geldmangel nie eine Rolle spielen. Doch was er bereit war dafür zu tun…das durfte sie nie erfahren. Berger hatte sich das nach den ersten Todesfällen, die im Zusammenhang mit der Erprobung eines neuen Antipsychotikums der UCD vor zehn Jahren auftraten, geschworen. Gerade jetzt und hier musste er wieder an das Gespräch denken, dass das damalige Mitglied der Geschäftsleitung, ein Herr Alexander Schönherr und jetzige Vorstandsvorsitzende der UCD mit ihm in einer der oberen Etagen eines Bürokomplexes der UCD in New York City geführt hatte.
Die Sätze hatten sich in sein Gehirn gebrannt. Schönherr sagte: „Jeder forschende Arzneimittelhersteller rechnet mit einer bestimmten Anzahl von Toten. Hier geht es nicht um Schuld, noch weniger um Mitschuld des einzelnen Verantwortlichen in der UCD. Hier geht es um die große Tat mitzuwirken, vielen kranken Menschen geholfen zu haben. Schauen Sie in einen Beipackzettel eines beliebigen modernen Medikamentes. Sie werden dort immer eine Tabelle finden. Unter der Rubrik Nebenwirkungen, in dieser Tabelle, finden Sie die Effizienz auch unserer Arbeit abgebildet. Was erfahren Sie unter der Rubrik seltene Nebenwirkung? Sie finden, dass von 10000 Patienten 1 bis 10 Patienten betroffen sind. Ich frage Sie, Herr Berger: Können Sie zukünftig mit 10 toten Patienten leben, ruhig leben…, wenn sie damit aber 9990 ein besseres und erfülltes Leben bieten können?“
Berger konnte es…bis heute.
Zuerst hatten ihn diese Worte belastet. Doch bereits auf dem Rückflug nach Deutschland, weit über den Wolken, ließ die Spannung nach und er versuchte, seine Arbeit in der UCD als eine Art Wohltätigkeit zu sehen.
Doch all dies war, das wusste Berger, nur die halbe Wahrheit.
Monate später erfuhr Berger, dass es bei der Erprobung neuer auf das Gehirn einwirkender Medikamente nicht nur um irgendwelche Nebenwirkungen ging, die es zu minimieren galt. Es ging um die Minimierung der akuten Suizidgefahr von Kranken, die sich einer Behandlung mit modernen Medikamenten gegen Depressionen unterzogen. Allerdings waren in den letzten Jahren weniger stark die normalen Kranken in den Fokus der Arzneimittelforschung gerückt als vielmehr die stetig wachsende Anzahl von Soldaten mit posttraumatischem Syndrom.
Bei dieser Art der Forschung konnte von einem wachsenden Markt und somit von einer sicheren Rendite ausgegangen werden. Zum anderen war man sich der gesellschaftlichen Akzeptanz dieser Forschung und Entwicklung sicher, da diese Soldaten unter Umständen eine akute Gefahr für die Gesellschaft darstellen konnten. Sie hatten Kämpfen und Töten gelernt, konnten mit modernen Waffen umgehen und fanden sich plötzlich in einer zivilen Gesellschaft wieder, die in großen Teilen mit allem Militärischen schon seit Jahrzehnten gebrochen hatte. Traumatisiert, kaum verstanden, wenig anerkannt, suchten diese Soldaten beginnend seit dem letzten Golfkrieg, später wegen der Konflikte in Afghanistan und anderswo auf der Welt, verstärkt die dafür zuständigen Therapiezentren auf. Davon gab es aber zu wenige. Die eigentlich dafür zuständigen militärischen Einrichtungen waren per se aber nicht dafür vorgesehen, den ehemaligen Soldaten monatelang auf die Wiedereingliederung in die zivile Gesellschaft vorzubereiten. Sie hatten und haben, wie zu allen Zeiten in der Armee, dafür zu sorgen, die Kampffähigkeit ihrer Militärangehörigen wieder herzustellen.
Es war für Berger mittlerweile ein offenes Geheimnis, dass die Zahlen, die ihm Schönfeld vor Jahren vorrechnete, schon lange für diese Art Klientel, also die traumatisierten Soldaten, nicht mehr zutrafen. Die in den Fachinformationen und Beipackzetteln dokumentierten Informationen galten für zivile Durchschnittsbürger, nicht aber für trainierte junge Kampfmaschinen, denen man ihre Aufgabe weggenommen hatte. Nicht zehn Patienten hatten und folgten suizidalen Absichten unter der Einnahme der neu entwickelten Medikamente, sondern hunderte. Lag es am Durchschnittsalter, an den durchgemachten Traumen? Niemand wusste es. Doch dies alles durfte niemals publik werden, deshalb entschied man sich bei der UCD andere, völlig andere Wege zu gehen…Doch diese werden, zumindest zu Beginn, noch mehr…noch vielmehr Tote kosten, wusste Berger.
Und er würde mit daran schuld sein!
Erst vor einem halben Jahr forderte Schönherr in einer Beratung vor einem ausgesuchten Kreis, zu dem auch Berger gehörte:
„Was ich in dieser Phase, zur Beantragung der Zulassung bei den Behörden, brauche, sind bessere Zahlen bei den Nebenwirkungen! Machen Sie das irgendwie, haben Sie mich verstanden? Und…und hören Sie,…falls ein Proband einen Unfall erleidet oder von mir aus unauffindbar ins Ausland übersiedelt, zählt er offiziell nicht mehr zur Studie und wird auch in der Statistik nicht mehr berücksichtigt. Also, wie gesagt, in der jetzigen Situation können wir nichts mehr am Wirkstoff ändern, der schon in der Pipeline ist, sondern nur noch an den Zahlen. Ist Ihnen das klar? Hier geht es nicht um Ihren Arsch, sondern um Millionen von Entwicklungskosten!“
Während an Berger all dies gedanklich vorüberzog, versuchte er telefonisch, eben jenen Mann in New York City zu erreichen, für dessen Geld, so schien es ihm heute, er seine Seele geopfert hatte. Ja, denn er hatte nicht nur seine Moral abgelegt, sondern sich ganz in den Dienst der Sache gestellt, so wie er es immer getan hatte, wenn es um die Erreichung eines Ziels ging. Diese Eigenschaft wurde von Machtmenschen, wie Schönherr, nur allzu gern ausgenutzt. Doch wenn Berger nun vor sich selber endlich ehrlich war, dann konnte er die ganze Schuld nicht nur auf die eine Charaktereigenschaft schieben, sondern es war vielmehr auch seine Eitelkeit, die ihn antrieb. Eitelkeit ist eine der großen Todsünden, dachte Berger, wie konnte er diesen Spruch seines alten Pfarrers aus Kindheitstagen nur vergessen haben.
Dann endlich erreichte er Schönherr. Doch das Telefonat war kurz und für Berger, innerhalb der wenigen Sekunden des Gespräches, eine Art Schlussstrich. Er hatte schon vor sich zu viel Schuld aufgeladen. Jetzt war ihm die Rückendeckung entzogen worden, er spürte es. Das alles würde