Die Suizid-App. Peter Raupach
Rauchen in der Pause fragte Felix einmal Roland:
„Sag mal, weshalb bist Du eigentlich schon solange hier in der Gruppe? Was suchst Du hier? Sorry, aber entschuldige, Du kommst mir völlig gesund vor. Ich meine…“
Roland fing an zu lachen und meinte dann voll Heiterkeit:
„Echt, echt? Ich bin normal? Ne, Du hast gesagt, ich komme Dir völlig gesund vor! Herrlich! Ach Du bist wirklich goldig! Mann, hätten wir uns bloß schon früher kennen gelernt, ne echt wirklich!“
„Du hast mir meine Frage nicht beantwortet. Ist ja auch nicht schlimm, dachte nur…“
„Okay, okay. Ich versuch‘s zu erklären. Also, es stimmt, ich habe keine mittelschwere oder schwere Depression. Ein Arzt hat bei mir mal eine leichte Depression diagnostiziert. Ich habe mir das nie durch eine Zweitmeinung bestätigen lassen. Ich habe dann nicht nur abends mein Quantum an Alkohol getrunken, sondern auch mittags und schon ging es mir besser.“
„Und was hast Du in die Aufnahmepapiere geschrieben?“
„Ich sage Dir, dem Reißmann kannst du ohnehin nichts vormachen, der hat schnell kapiert, dass ich in der Gruppe für etwas gut bin. Ich bin das Stückchen Normalität für Euch, sorry, den Kranken. Aber eigentlich scheine ich mehr für Reißmann und seine, wie soll ich sagen, für seine Studien zu sein. Ich denke, ich bin das Placebo in dieser Gruppe. Ihr schluckt alle fleißig Eure Mittelchen, bekommt Blut abgenommen und ich schlucke Alkohol in überschaubaren Mengen, genauso wie es der brave Bürger draußen auch macht.“
„Wieso Blut abgenommen, ich denke das ist hier‘ne Selbsthilfegruppe?“
„Okay, dann weißt Du es eben jetzt. Sobald Du beginnst, dein Medikament einzunehmen, wird in regelmäßigen Abständen eine kleine Blutprobe genommen. Da machen bisher auch alle ganz lieb mit, denn sie erfahren, ob ihnen das Mittel wirklich gut tut oder eben auch nicht.“
Die wenigen Stunden in der Selbsthilfegruppe taten Felix jedenfalls, wie er selbst meinte, gut. Er legte wieder mehr Wert auf sein Äußeres.
Zuhause nach den Treffen angekommen, kümmerte er sich um seine Wäsche und fing sogar zu bügeln an. Wenn alles erledigt war, begann er sich zu langweilen. Dieses Gefühl kannte er schon lange nicht mehr. Während er immer häufiger an all die Lebensgeschichten und Schicksale der anderen Gruppenmitglieder dachte, nahm er den Zustand seiner Wohnung plötzlich auch wieder mit anderen Augen wahr.
Hier kann ich niemanden einladen, hier darf niemand rein, viel zu schmutzig und unaufgeräumt, dachte Felix bedauernd.
Nach zwei weiteren Tagen, die Felix als einen Zeitraum mit erdrückender Leere wahrnahm, brüllte er laut in Richtung Fernseher:
„Schluss jetzt!“
Sofort klopfte es von der Wohnzimmerdecke und jemand rief:
„Ruhe! Ich hab die Schnauze voll von diesem Haus. Ich habe Feierabend!“
Felix schwang sich von der Couch, das heißt er versuchte es und wollte aufstehen. Im selben Moment spürte er einen stechenden Kopfschmerz, sein Knie stieß hart an den kleinen Tisch vor ihm. Langsam rollte die leere Schnapsflasche auf dessen Rand zu. Felix wollte die Flasche halten, aber er war viel zu langsam. Scheppernd, aber ohne kaputt zu gehen, knallte die Flasche auf den staubigen Dielenboden.
„Ich habe Ruhe gesagt, sonst…“, rief die Stimme wieder von der Decke. Dann klirrte es über Felix, ähnlich wie eben bei ihm im Wohnzimmer.
Felix schleppte sich zum Fenster und hielt sich dabei seinen Kopf. Es war früher Nachmittag. Er machte das Fenster weit auf, hob die Gardine über den oberen Fensterrahmen zurück ins Wohnzimmer. Während er das Fenster geöffnet ließ, ging er in die Küche, um den Abfall nach unten zu schaffen.
Beim Anblick der Massen an leeren Flaschen und der vielen bis an den Rand gefüllten Abfallbeutel, hätte er sich beinahe wieder umgedreht, um von dem schier unlösbaren Vorhaben wieder abzulassen. Doch ein fixer Gedanke beherrschte ihn im Moment.
Es waren noch zehn Tage Zeit bis zum nächsten Treffen der Selbsthilfegruppe. Wie sollte er die überstehen, vor Langeweile? Felix konnte und wollte nicht mehr so weiter machen wie bisher.
Ob er es wirklich schaffen würde, seine Depression wieder los zu werden?, dachte Felix. Erst jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich dieser Frage in den zurückliegenden Wochen nie gestellt hatte. Woher kam dieser plötzliche Wandel?, fragte er sich nun doch.
Er nahm in jede Hand zwei Beutel mit Abfall und machte mit dem Ellenbogen seine Wohnungstür auf. Gerade als er rausgehen wollte, fiel ihm die Antwort auf seine Frage ein. Es war ganz einfach. Er hatte der Gruppe angekündigt, bei der nächsten Zusammenkunft über sich zu reden, sein Problem und so…, eben über seine Krankheit.
Das Medikament
Eines Tages, für Felix mochten es gute vier Wochen nach seinem Arztbesuch gewesen sein, klingelte das Telefon.
Felix angelte sich sein iPhone mit zwei halbwegs trockenen Fingern, da er sich gerade rasierte. Obwohl er starken Bartwuchs hatte, rasierte er sich nur noch einmal in der Woche, wenn er nachmittags zur Gruppe ging. Das Wischen auf dem Display gestaltete sich schwierig, doch dann konnte er die auf laut gestellte Stimme gut verstehen. Er hielt das Telefon trotzdem zehn Zentimeter vom Ohr entfernt, weil er gerade sein Gesicht eingeschäumt hatte. Während er in den Spiegel schaute, murmelte er:
„Ja, hier Felix …“
„Guten Tag, Arztpraxis Doktor Schwenker, Schwester Evelin. Weshalb ich anrufe ist, der Doktor möchte wissen, ob bei Ihnen soweit alles in Ordnung ist? Die Packung, die Ihnen der Doktor mitgegeben hat, müsste ja nun auch schon so gut wie alle sein…oder?“
„Danke der Nachfrage. Bei mir ist soweit alles okay. Ich wollte sowie morgen…äh nein, nächste Woche wegen der Verlängerung der Krankschreibung…“
„Sie haben Glück, der Doktor macht mittwochnachmittags Telefonsprechstunde, kleinen Moment ich stell durch!“
„Aber…“
„Ja hier Doktor Schwenker?“
„Äh, ähm hier ist Felix…Die Schwester hat..“
„Ach Herr ….alles kein Problem. Dafür sind wir ja da. Weshalb zahlen Sie sonst Krankenversicherung?
Also wie sind Ihnen die Tabletten bekommen?
Herr …? Sind Sie noch dran?“
„Ja, ja bin ich. Also, Herr…Herr Doktor Schwenker, die Sache ist die…ähm…dass es mir schon wieder ganz gut geht, denke ich. Da brauchte ich die Tabletten nicht.“
„Aha, verstehe. Nun gut. Also hören Sie zu. Sie sollten die Tabletten nehmen. Nein nicht sollten, sondern müssen. Sie sind doch ein intelligenter Mensch. Was hatten Sie noch gerade gemacht…ach ja hier steht es…Sie sind Banker. Na da können Sie doch rechnen und verstehen doch sicherlich eine Menge von Ungleichgewichten zwischen Soll und Haben, stimmt‘s?“
„Aber ich…“, murmelte Felix.
„Na sehen Sie. Und so ein Ungleichgewicht liegt bei Ihnen jetzt vor. Da sind chemische Botenstoffe im Ungleichgewicht. Das geht nicht innerhalb von vier Wochen weg. Mag sein, dass es Ihnen im Moment etwas besser geht, denn Sie gehen ja auch zur Selbsthilfegruppe, wie man mir berichtete… Aber das ist ja gerade das Tückische an dieser Krankheit. Sie gaukelt Ihnen vor, es ist wieder alles in Ordnung, um dann mit voller Wucht wieder zu kommen. Also seien Sie vernünftig und nehmen dann gleich, wenn Sie aufgelegt haben die erste Tablette. Wir haben schon viel zu viel Zeit verloren. Ich stell zurück zur Schwester, danke!“
„Schwester Evelin…also die Verlängerung schicke ich Ihnen zu. Ach ja, noch eins. Es ist eine Bitte. Sollten Sie sich doch gegen den ärztlichen Rat entscheiden und die Tabletten nicht einnehmen, so bittet Sie der Doktor, dringend die Packung zurück zu bringen. Sie ist Eigentum der Praxis.“
„Ja, geht in Ordnung.