Verlorenend. S. G. Felix
Morgen wollten sie aufbrechen. Doch bis dahin hatten sie noch die ganze Nacht vor sich. Und die nutzten sie, um gemeinsam am Feuer zu sitzen und so viel wie möglich voneinander zu erfahren. Nur Gilbert hielt sich gewohntermaßen zurück mit Geschichten aus seiner Vergangenheit.
Pais war ein unverschämt guter Erzähler. Er konnte jede noch so unbedeutende Begebenheit aus seinem Leben fesselnd schildern.
Und Antilius bemerkte, wie auch Gilbert auflebte. Und lachte. Er lachte aus vollem Herzen. Kein Streit. Keine Bosheiten. Wie lange war es wohl her gewesen, dass er das letzte Mal so ausgelassen gelacht hatte? Wie lange hatte er mit der Einsamkeit in seinem Gefängnis ausharren müssen? Erst jetzt empfand Antilius echtes Mitleid mit seinem Freund. Man hatte Gilbert alles genommen, aber seine Seele konnte man ihm nicht nehmen.
Nachdem Pais ein paar Anekdoten aus seinem früheren Leben in den Ahnenländern zum Besten gegeben hatte (warum und vor allem, wie er von dort geflohen ist, behielt er zu Antilius’ Unmut und trotz einer beherzten Nachfrage für sich), fragte er freundlich nach Antilius’ Herkunft.
Und das war der Moment, in dem sich für Antilius alles änderte. Zunächst wollte er irgendetwas kurzes Erfundenes daherstammeln, wie er es früher getan hatte, wenn ihn jemand nach seiner Herkunft fragte. Doch dann entschied er sich endlich, das erste Mal in seinem Leben jemandem die Wahrheit zu erzählen. Was hatte er denn zu verlieren? Wieso sollte er etwas erfinden und sich in Lügen verstricken? Er vertraute den beiden Männern am Lagerfeuer. Er wollte es endlich jemandem erzählen. Es musste endlich aus ihm heraus. Es ständig allein mit sich herumzuschleppen war unerträglich. Und er musste sich bemühen, dass er sich beim Sprechen nicht überschlug. Sein Herz raste auf einmal. Sein Mund wurde ganz trocken, und er verspürte ein leichtes Kribbeln in den Armen. Denn das, was er über sich zu erzählen hatte, war so unglaublich, dass er sich bisher noch nie jemandem anvertraut hatte.
»Ich weiß nicht, wer ich bin«, begann er und wartete die Reaktionen von Pais und Gilbert ab.
»Was meinst du damit?«, fragte Pais, der sofort erkannte, dass Antilius angespannt war und es sehr ernst meinte, was er sagte.
»Die ganze Geschichte?«, fragte Antilius.
»Ja, bitte.«
»Also schön. Aber ich muss euch erst sagen, dass ich es noch nie jemandem erzählt habe, weil, … weil ich es eben nicht konnte. Und verdammt, es fällt mir auch jetzt sehr schwer, darüber zu reden.«
»Wir haben die ganze Nacht Zeit«, sagte Gilbert in einem erleichternd beruhigenden Ton.
Dann begann Antilius zu erzählen und mit jedem Satz, mit jedem Wort fühlte er, wie eine Last von ihm fiel, wie er sich leichter und leichter fühlte. »Ich erinnere mich nur bruchstückhaft an meine Kindheit. Eine glückliche Kindheit muss es wohl gewesen sein. Ich erinnere mich, wie ich an einem Fluss sitze und angle. Ich erinnere mich, wie sich meine Mutter über mich beugt, um mir einen Gute-Nacht-Kuss zu geben, und ich erinnere mich an einen meiner Geburtstage, bei dem es einen großen dunklen Kuchen gab und viele andere Kinder da waren, und wie wir gelacht haben, und wie wir spielten, bis es dunkel wurde. Ich erinnere mich an das Panorama einer Stadt mit hohen, weißen Türmen, obwohl ich weiß, dass es auf Thalantia so eine Stadt nicht gibt.
Und dann … Dann fehlt mir die Erinnerung. Ich weiß nicht genau, wie viele Jahre es sind. Ich schätze, dass ich mich an die Zeit zwischen meinem zwölften und vielleicht zweiundzwanzigsten oder dreiundzwanzigsten Lebensjahr an nichts mehr erinnern kann. Aber wie gesagt, das ist nur eine Schätzung. Ich weiß nicht genau, wie alt ich jetzt bin. Vermutlich Ende zwanzig. Ich weiß es nicht.«
Pais hätte Antilius einen Tick jünger geschätzt, aber er glaubte, dass Ende zwanzig auch hinkommen könnte.
»Und was ist deine erste Erinnerung nach dieser Zeit des Vergessens?«, fragte er.
Antilius schloss kurz die Augen. Dann war er im Geiste an dem Ort, an dem seine Erinnerungen wieder begannen. »Ich erinnere mich, wie die Luft, die ich einatmete, salzig war. Es war dunkel. Es war eine sternenklare Nacht. Der Mond Pathan war nur eine dünne ockerfarbene Sichel am Nachthimmel. Um mich herum war …«
… das Meer. Es war ganz ruhig. Nur eine leichte salzige Brise strich Antilius durchs dunkelbraune Haar, das in dieser Nacht vor fast sieben Jahren schulterlang war. Er stieg einen felsigen Pfad empor.
Der Pfad war schmal und steil. Er gehörte zu einem kleinen schwarzen Felsen, einem von über vier Dutzend, die vor der Westküste von Bétha aus dem Wasser ragten. Das Felsgestein war brüchig und scharfkantig, weswegen diese Felsengruppe auch ‚Die Splitternden’ genannt wurde.
Ohne sich nach links oder rechts zu drehen, ja ohne sich überhaupt darüber bewusst zu sein, dass Antilius die Spitze des Felsens erklomm, setzte er einen Fuß vor den anderen. Er war noch nicht wirklich dort auf diesem Felsen. Physisch schon, aber er fühlte sich noch wie in einem Traum, alles um ihn herum kam ihm nicht real vor; er fühlte sich dieser Realität nicht zugehörig. Anders konnte er seinen Zustand im Nachhinein nicht besser beschreiben.
Aber allmählich, Schritt für Schritt, wurde die Welt um ihn herum wirklicher. Der Salzgeschmack wurde realer. Die Brise, die sein Gesicht und sein Haar berührte, drängte ihn langsam in diese Realität zurück.
Ehe er auf den Gedanken kam, sich zu fragen, was er hier eigentlich zu suchen habe, geschweige denn, wie er überhaupt hierher gekommen war, sah er am Ende des Pfades auf einem schmalen Plateau an der Spitze des Felsens ein kleines Lagerfeuer brennen.
Antilius blieb stehen und betrachtete es fasziniert mit großen Augen.
Langsam verringerte er die Distanz zwischen sich und den Flammen. Er hatte das Plateau zweihundert Meter über dem Meeresspiegel fast erreicht, als er eine Gestalt mit einer Kapuze über dem Kopf bemerkte, die hinter dem Feuer saß und dem dunklen Meer zugewandt war.
Nach einem kurzen Zögern stellte sich Antilius an das Lagerfeuer und fühlte die (reale) Wärme auf seiner Haut, die es abstrahlte.
Die Gestalt auf der anderen Seite des Feuers regte sich nicht.
Antilius’ Blick wanderte vom Feuer zu der Gestalt, wieder zurück und dann wieder zur Gestalt. Eine Menge von Fragen begann sich in seinem Kopf zu sammeln.
»Wie geht es dir?«, fragte die Gestalt plötzlich, ohne sich zu bewegen und sich von dem Meer abzuwenden. Die Stimme gehörte einer Frau.
Antilius bekam ein dumpfes Gefühl in der Magengegend. »Wo bin ich hier? Was ist mit mir geschehen?«, fragte er.
»Wir sind vor der Küste von Bétha. Erinnerst du dich an diesen Namen?«
»Ja.« Bétha war die Vierte Inselwelt auf Thalantia. Daran konnte sich Antilius deutlich erinnern.
»Wie heißen die anderen Inselwelten?«
Antilius antwortete mit einer Gegenfrage: »Wieso wollen Sie das von mir wissen? Wer sind Sie ei…«
»Es ist wichtig, was du weißt und was du vergessen hast«, fiel ihm die Frauenstimme ins Wort. »Also, erinnerst du dich an die Namen der Sieben-Inselwelten? Wenn ja, dann nenne mir die Namen der anderen sechs! Streng dich an. Ich weiß, du kannst das.«
Antilius musste einen Augenblick überlegen. Er war sich zwar sicher, dass er die Namen im Schlaf kannte (jedes Kind konnte die Namen im Schlaf aufzählen!), dennoch fiel es ihm schwer, sich an sie zu erinnern. Weil er noch nicht ganz hier war. Er war noch nicht völlig real. Sein Gedächtnis war noch nicht richtig real.
»Die erste Inselwelt heißt … Arbrit, die zweite Brigg«, murmelte Antilius und spürte Erleichterung darüber, dass ihm die Namen doch wieder einfielen. »Dann kommt Panthea, Bétha und Truchten. Nummer sechs und sieben heißen Fahros und Finfin.«
Die Kapuzengestalt hörte aufmerksam zu.