Verlorenend. S. G. Felix
Vater wird dort sein. Davon bin ich überzeugt.
Ich habe eine Karte in der Alten Bibliothek gefunden. Sie ist zwar nicht unbedingt sehr genau, aber sie wird dich zu deinem Ziel leiten.« Telscha bückte sich nach einer alten Truhe, auf der eine Schlingpflanze wuchs, befreite den Deckel von dem violettfarbenen Gestrüpp, öffnete sie und holte ein kleines und sehr schmutziges Stück Papier heraus. Sie entfaltete das Blatt und hielt es Antilius vor die Brust.
Er zögerte. Die Karte in die Hand zu nehmen, würde für ihn endgültig bedeuten, sich gegenüber Telscha zu verpflichten, die Suche nach Brelius fortzusetzen und gleichzeitig eine Reise ins Ungewisse anzutreten. Sie schaute ihm tief in die Augen und dann sprach sie das aus, von dem Antilius ahnte, dass sie es schon, als er diesen Raum betreten hatte, in seinen Augen gesehen hatte.
»Er hat dich auch in deinen Träumen heimgesucht«, sagte sie.
Antilius fuhr innerlich zusammen.
»Koros war in deinen Träumen. War es nicht so?«, hakte sie nach.
»Ja. Einmal. Als ich mit dem Schiff herkam. Woher weißt du das?«
»Ich habe diesen Blick, mit dem du mich die ganze Zeit angesehen hast, schon einmal gesehen. Bei meinem Vater. Die gleiche Furcht. Dieselbe Sorge. Dasselbe Grauen.«
Es behagte Antilius nicht, dass andere Leute in seiner Gefühlswelt herumstocherten. Ungeachtet dessen hatte sie recht, und er wollte es sich nicht eingestehen. Der Fremde, der Mann ohne Gesicht, es war Koros Cusuar. Obwohl er keine Beweise hatte, war er sich in diesem Augenblick absolut sicher, dass er es war. Als ob er ihn irgendwoher kennen würde. Er fühlte eine gewisse unerklärliche Vertrautheit. Und wie es schien, war er selbst diesem Koros auch vertraut. Vertraut genug, um Antilius’ Anwesenheit zu spüren und mit ihm über einen Traum Kontakt aufzunehmen. Und Antilius die Klippe herunterzustürzen.
Er erschauerte.
Aber es wurde Antilius auch klar, dass es nicht richtig war, sich zu drücken und wegzulaufen. Sich zu verstecken. Er würde nie wieder ruhig schlafen können, wenn er sich nicht jetzt entschließen konnte, dem Rätsel auf die Spur zu kommen. Er war gekommen, um etwas über seine Vergangenheit herauszufinden, um seine Erinnerungen an verlorene Jahre zu suchen. Und Brelius schrieb in dem Brief, dass es Antworten geben würde.
Er nahm die Karte in die Hand und spürte, wie Telscha innerlich einen Seufzer der Erleichterung von sich gab.
Er schaute sich die Abbildung sehr genau an und kam zu dem Schluss, dass er sie kein bisschen verstand. Wo war Norden? Wo Süden? Telscha drehte die Karte einmal um hundertachtzig Grad und deutete dann auf eine kleine Burg, die am linken unteren Kartenrand eingezeichnet war. Ein Kind hätte diese Karte wohl genauer zeichnen können, dachte sich Antilius.
»Das sieht nach einem sehr, sehr langen Weg aus«, stöhnte Gilbert.
»Das kann dir doch egal sein«, gab Antilius zurück.
»Die Hälfte der Strecke kannst du mit der Amedium-Bahn fahren. Sie sollte einmal bis zum südlichen Ende der Fünften Inselwelt führen, wurde jedoch aus Gründen, die wir nicht kennen, nie fertig gebaut. Es gibt eine geheime Abzweigung mitten im Wald. Man kann sie kaum sehen, wenn man in der Gondel sitzt. Also musst du wachsam sein. Du musst nach einer alten toten Ulme Ausschau halten. Dort befindet sich die Abzweigung.«
Antilius schüttelte den Kopf: »Ich finde bei dieser ungenauen Karte nie den Weg zur Festung.«
»Das tut mir Leid. Aber ich habe nichts Besseres«, sagte Telscha grimmig.
Antilius nickte. »Also schön.«
»Und noch Eines: Wenn du meinen Vater gefunden hast, dann musst du das Tor zerstören.«
»Zerstören? Ich? Aber wie?«
»Er wird es dir erklären. Er wird viele Antworten auf deine Fragen haben. Du bist derjenige, der uns helfen kann. Du und niemand anderes.«
»Und was soll ich tun, wenn ich deinen Vater nicht finden kann?«
Sie schwieg. Das war auch in Ordnung, denn er kannte die Antwort. Das Tor musste auf jeden Fall vernichtet werden, bevor es Koros erreichen konnte.
»Koros wird sicherlich schon unterwegs sein, um sich des Tores zu bemächtigen. Wie viel Vorsprung, glaubst du, werde ich haben?«
»Das weiß ich nicht. Koros weiß vermutlich jedoch nichts von der kleinen verlassenen Strecke der Metallbahn. Nur mein Vater und jetzt du und ich wissen davon. Sie wird dir einen Zeitvorteil verschaffen können, wenn du rasch aufbrichst.«
»Gut.«
Antilius überlegte kurz. »Telscha, willst du nicht mitkommen? Ich weiß, dass es vielleicht gefährlich werden könnte, aber du wirst vermutlich weniger Schwierigkeiten haben, den richtigen Weg zu finden als ich, und ich kann wirklich jede Hilfe gebrauchen.«
Telscha schien auf diese Frage vorbereitet. Sie verkrampfte sich. »Als ich meinen Vater zum letzten Mal gesehen habe und er mir gesagt hat, er wolle noch einmal zum Zeittor zurückkehren, da habe ich sofort meine Sachen gepackt und wollte mitgehen. Doch er flehte mich an, es nicht zu tun. Er hatte wahnsinnige Angst, dass mir etwas zustoßen könne, und ich musste ihm versprechen, dass ich niemals diesen grausigen Ort aufsuchen solle. Niemals. Es fiel mir zwar schwer, aber ich versprach ihm, hier zu bleiben.
Deshalb bleibe ich jetzt auch hier und werde auf ihn warten, denn dieses Versprechen darf ich nicht brechen. Ich werde hier warten, bis er zurückkehrt, denn ich weiß, dass er zurückkehren wird.« Telschas Augen füllten sich mit Tränen und dann fixierten diese Antilius mit einer hypnotischen Entschlossenheit. »Bring ihn mir zurück, Antilius. Bring ihn mir zurück.«
Antilius verstand und verabschiedete sich unangemessen knapp. Er wollte nicht mehr länger von dem Gefühl erdrückt werden, die Last einer großen Verantwortung gegenüber Telscha zu tragen. Der Last, ihren Vater finden zu müssen.
Als er wieder auf der nun sehr still gewordenen Gasse im Freien stand, ging es ihm schon wieder ein wenig besser.
»Was machen wir jetzt?«, fragte Gilbert.
»Wir werden Pais bitten, uns zu begleiten, schließlich ist er der beste Freund von Brelius.«
Uns. Das gefiel Gilbert. Er freute sich riesig, dabei sein zu dürfen, bei diesem geheimnisvollen Abenteuer. Auch wenn er es nur durch eine Glasscheibe erleben durfte.
Aus dem angebrochenen Abend wurde langsam eine dunkle Nacht. Immer mehr Sterne lugten aus dem Himmelszelt hervor.
Antilius ging zurück zum Wurmhügel und wünschte sich, er wäre nie hierher gekommen.
Die Splitternden
Als Antilius in der Dunkelheit der Nacht zum Wurmhügel zurückkehrte, bot sich ihm ein Anblick, der es ihm unmöglich machte, seine Kinnlade wieder zu schließen.
Pais Ismendahl hatte hinter dem Haus ein kleines Feuer entzündet. Hoch über den tanzenden Flammen gaben die Riesen-Glühwürmchen ihre Galavorstellung. Etwa zwei Dutzend von ihnen schwirrten spiralförmig über dem brennenden Holz. Die aufsteigende heiße Luft schien sie zu Höchstleistungen anzuspornen. Sie änderten ohne erkennbaren Rhythmus ihre leuchtende Formation. Mal bildeten sie einen Kreis, mal eine Pfeilform, mal einen Stern oder sogar eine Kugel. Das sanfte Brummen, das sie dabei erzeugten, glich dem beruhigenden Schnurren einer Katze.
Antilius begriff, warum Pais soviel Wert auf diese kleinen Wesen legte. Sie waren äußerst intelligent und wunderschön anzusehen.
Lange, sehr lange beobachteten er und Gilbert die Darbietung, bis die Glühwürmer schließlich erschöpft waren und einer nach dem anderen zur Landung in ihren geräumigen Käfig ansetzten.
Als auch der letzte seinen Kunstflug beendet hatte, war es nicht schwer, Pais davon zu überzeugen, Antilius bei seiner Suche zu begleiten. Der alte Herr meinte, es könne nicht schwer sein, den Ort zu finden, an dem sie Brelius Vandanten vermuteten. Die Largonen-Festung könne