Verlorenend. S. G. Felix
Antilius klopfte mehrmals gegen die Tür, doch es antwortete niemand.
»Mach einfach die Tür auf«, riet Gilbert.
Das tat Antilius dann auch nach einigem Zögern und betrat das Haus. Als er das Innere erblickte, wurde seine zuvor in seinem Kopf umhergeisternde Vorstellung einer alten verstaubten Bibliothek, die unter Lichtmangel litt, schnell revidiert. Es war nicht staubig und schon gar nicht dunkel. Im Erdgeschoss dieses Hauses gab es nur ein einziges großes Zimmer, und in jeder Ecke des Raumes flackerte ein kleines Feuer in einem bröckligen Kamin. Im ganzen Raum waren bequeme Sessel wahllos verstreut, die aus feinsten Stoffen gefertigt waren. Bücherregale oder andere Möbel gab es nicht. Ein perfekter Ort, um sich zu entspannen, aber nicht um zu schreiben, dachte Antilius bei sich und fühlte sich sofort behaglich, was für ihn eigentlich ungewöhnlich war.
Es schien niemand anwesend zu sein. Doch als er, einen Bewohner suchend, einen der vielen Sessel umkreiste, fiel sein Blick auf zwei kleine Gestalten. Sie waren je kaum größer als Antilius’ Hand und sahen sich beide zum Verwechseln ähnlich. Von ihrem Körperbau und ihrer Fellbehaarung hätte man sie wohl am ehesten mit Lemmingen vergleichen können.
Es waren Rijas. Genauer gesagt war es ein Rija. Diese beiden Geschöpfe waren nämlich telepathisch fest miteinander verbunden und zwar derart, dass sie als ein Wesen sprachen und dachten. Es war also ein Rija mit zwei Körpern.
Antilius war sich bis zu diesem Zeitpunkt nicht sicher gewesen, ob diese Wesen überhaupt in der Realität existierten, oder ob sie nur Fantasiegestalten waren.
Einer der beiden saß entspannt zurückgelehnt in dem für ihn viel zu großen Sessel und zog dunkelblauen Rauch aus einer winzigen Pfeife ein. Der andere saß daneben und schrieb auf einem kleinen Block. Das Pfeife rauchende Rija bemerkte den Besucher schnell.
»Einen Augenblick, bitte!«, rief er mit geschlossenen Augen und konzentriertem Blick.
Der andere schreibende Rija sprach mit derselben Stimme weiter, ohne seinen Blick von seinen Notizen abzuwenden. »Ich bin gerade dabei, eine äußert komplexe Satzkonstruktion zu vollenden.«
Antilius wartete geduldig ab, bis sich das Gesicht des rauchenden Rijas entspannte und sein Freund eifrig etwas aufschrieb. »So. Jetzt ist es wirklich perfekt«, schwärmte der Schreibende.
»Der Jahrespreis der Gildenvereinigung ist mir schon jetzt sicher.« Es folgte ein selbstzufriedenes Gelächter von beiden kleinen Dichtern, das in einer derart hohen Tonhöhe durch den Raum schallte, dass Antilius Gänsehaut bekam.
»Aber nun zu dir«, begann der rauchende, und der andere bemerkte Gilbert in dem Spiegel. »Ich korrigiere mich: zu euch. Ich nehme mal an, dass ihr ein Autogramm von mir haben wollt. Nun, ihr habt Glück. Es ist zwar nicht leicht, bei dieser enormen Nachfrage jeden zufrieden zu stellen, aber ganz zufälligerweise habe ich einige hier.« Während die ganze Zeit ein und dieselbe Stimme sprach, wechselte praktisch nach jedem Satz der Sprecher. Ein gewöhnungsbedürftiges und zugleich faszinierendes Erlebnis.
Antilius musste sich erst einmal an die ungewöhnliche Art der Kommunikation gewöhnen.
»Also eigentlich suche ich jemanden«, begann er achtsam, um das hünenhafte Ego der beiden Winzlinge nicht zu beleidigen.
»Ihr habt ihn gefunden.«
»Nein, ich suche eine junge Frau. Sie schreibt hier auch. Sie beschäftigt sich wohl mit Kräuterheilkunde, soweit ich das weiß.«
Die beiden kleinen Dichter beäugten den Fremden misstrauisch.
»Ihr meint wohl Telscha. Was wollt ihr denn von ihr? Wollt ihr denn nicht erst ein Autogramm von mir?«
Gilberts Geduldsfaden riss: »Hör mal Kleiner, dein Autogramm interessiert uns nicht. Wir wollen mit Telscha reden. Wo ist sie?«
»Gilbert! Sei doch nicht so unhöflich!«
Die beiden Winzlinge machten synchron ein entsetztes Gesicht.
»Ihr ... ihr wollt kein Autogramm von mir?«, stammelten sie abwechselnd.
Die beiden Besucher schüttelten den Kopf.
»Kennt ihr denn überhaupt meine Werke?«
Kopfschütteln
»Wisst ihr denn nicht einmal, wer ich bin?«
Wieder Kopfschütteln. Und ein betretener Gesichtsausdruck bei Antilius.
Die beiden Miniatur-Dichter (oder der Miniatur-Dichter) schnappten (schnappte) kurz nach Luft, fingen (fing) sich dann jedoch wieder rasch, jedenfalls nach außen hin.
»Sie ist oben, im ersten Stock. Sie schreibt, glaube ich, gerade an einem äußerst faszinierenden Buch über die Fortpflanzungsmethode der Steppen-Ringelblume. Wirklich sehr spannend! Ich wusste ja gar nicht, dass ihre Werke meine Popularität mittlerweile schon übertroffen haben. Nicht, dass mir das etwas ausmachen würde, denn ich habe ja bereits jeden Preis gewonnen, den man nur gewinnen kann, obwohl euch das anscheinend nicht interessiert«, sprach der rauchende und schreibende Rija abwechselnd mit völlig beleidigter Stimme. »So, und jetzt dürft ihr gehen, denn ich habe keine Lust, meine Zeit mit zwei Analphabeten zu verschwenden!«
Beide Rijas (oder der eine Rija) wandten (wandte) ihren (seinen) Blick von Antilius und Gilbert ab und gaben (gab) vor, sich wieder auf das Schreiben zu konzentrieren. In Wahrheit versuchten beide Gestalten, den brodelnden Ärger zu verarbeiten.
Antilius wandte sich ab, ohne noch etwas zu erwidern und stieg die einzige Treppe des von außen zerfallen wirkenden Hauses nach oben in den ersten Stock.
»Wie kann man nur bei einer Größe eines Hamsters so aufgeblasen und selbstverliebt sein?«, schimpfte Gilbert, als sie sich außer Hörweite befanden.
Die Tür des ersten Zimmers im oberen Stockwerk stand weit offen und ein seltsam sumpfiger Geruch stieg Antilius in die Nase. Es war stickig heiß und schwül. Der kleine Raum zeigte sich voll mit Pflanzen unterschiedlichster Art und Größe. Ein Wunder, dass sie hier gedeihen konnten, denn es war relativ dunkel in dem Raum. Hinter einem Farngewächs saß eine junge Frau mit unordentlichem dunklen Haar an einem kleinen wackeligen Tisch und untersuchte durch ein Vergrößerungsglas ein gelbgrünes Blatt.
Antilius räusperte sich: »Entschuldigung.«
Die Frau löste sich rasch aus ihrer starren Haltung, legte das Glas beiseite und schaute den Besucher überrascht an. »Ihr seid Antilius. Habe ich recht?«, sagte sie.
»Ja. Es scheint so, als ob mich hier schon fast jeder kennt. Woher wisst Ihr, dass … nein, lasst mich raten: Brelius hat Euch von mir erzählt. Euer Vater, meine ich.«
»Ich habe meinen Vater noch nie so aufgelöst erlebt. Und ich habe ihm auch noch einen Hinweis gegeben, der ihn ins Verderben geführt hat.«
»Ihr meint die Geschichte mit dem Zeittor?«
»Ja. Es war einfach nur eine verrückte Idee, aber er war davon besessen. Er wollte mir beweisen, dass er fähig ist, den großen Durchbruch zu schaffen. Dieser Stein, den er gefunden hat; er ist wirklich verhext. Er hat meinen Vater verhext.« Telscha schaute besorgt aus dem Fenster.
»Was könnt Ihr mir über diesen Stein - das Avionium - erzählen?«
»Darüber weiß ich leider überhaupt nichts. Er hat mir nichts weiter erzählt, als dass es Gegenstände leichter machen kann, aber das wisst Ihr vermutlich schon.«
»Hat er Euch von seinen Alpträumen berichtet?«
»Nur kurz bevor er zu seiner letzten Reise aufgebrochen ist. Er sah so zerstört aus. Er war ganz blass und ausgemergelt. Er klagte, dass er zu einem Werkzeug des Bösen gemacht worden wäre. Er hätte das Tor zur Hölle geöffnet. Deshalb wollte er noch einmal losziehen, um seinen Fehler wieder rückgängig zu machen. Er schien mir aber nicht wirklich überzeugt davon zu sein, dass er es schaffen würde.
Und er hat mir von Euch erzählt«, sagte Telscha und schaute Antilius skeptisch an, vermied es aber