Der verborgene Erbe. Billy Remie

Der verborgene Erbe - Billy Remie


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kontrollieren konnte.

      ***

      Der Tag, an dem sie ausrücken würden, war rasch nähergekommen, und obwohl er ihn sich herbeigesehnt hatte, wurde er nun Augenblick um Augenblick nervöser.

      Er hatte gegen viele Feinde gekämpft, oft nur knapp den Sieg errungen, vor allem gegen Dämonen war er angetreten, und nur weil ihm das Glück hold gewesen war, hatte er sie vernichten können. Doch nun trat er nicht gegen einen einzigen Dämon an, auch nicht gegen eine wildgewordene Schar, die in der Wildnis lauerte, sondern gegen eine organisierte Armee dunkler Mächte, angeführt von einem klugen, mächtigen Fürsten, der, laut Bellzazar, wahrscheinlich schon ihr Ankommen vorhersah und sie erwartete.

      Beinahe verliebt führte Desiderius den Wetzstein über die geschwungene Klinge seines treuen Schwertes, das ihm häufiger als er aufzählen konnte das Leben gerettet hatte.

      Er zweifelte, und das behagte ihm nicht. Zwar stand Bellzazar an seiner Seite, aber er konnte spüren, dass auch sein Bruder voller Furcht war. Doch sie mussten die Schwarze Stadt zurückerobern, weil niemand es sonst tun konnte. Wenn Eagles Armee das erringen konnte, was Rahff nie gelang, würden mehr Leute an sie glauben, würden mehr Leute zu ihnen stehen, vielleicht sogar Adelsmänner mit Truppen, die sich gegen Rahff stellen und zurück zu ihrem wahren König fanden.

      So sehr der Gedanke, wieder jenen zu vertrauen, die den Airynns in ihrer größten Not nicht beistanden, wusste Desiderius leider auch, dass ihnen in ihrer Lage keine andere Wahl blieb. Er konnte seinen Stolz nicht vor die Stärke ihrer Truppen stellen. Um Rahff und die Schavellens zu besiegen, brauchten sie jeden Freund, den sie kriegen konnten. Selbst wenn es menschliche Verbündete waren. Deshalb ließ er auch die Bauern, die kämpfen wollten, in die Mauern, denn Hochmut konnte er sich nicht mehr leisten.

      »Herr?«

      Verwundert sah er auf, hatte den Schatten, der auf ihn gefallen war, nicht bemerkt. Ein junger Bursche, mit feinem Antlitz, graublondem Haar und verstaubten Gesicht, ging vor ihm in die Hocke, um einen vollen Krug Trinkwasser abzustellen.

      »Ich soll Euch diesen hier bringen.« Der Bursche lächelte unsicher. »Der Herr Bellzazar sagte, Ihr sollt die Finger vom Wein lassen, wenn Ihr trainiert, und stattdessen Wasser trinken.« Der junge Mann senkte beschämt den Blick, als erwartete er für seine Worte Tadel.

      Desiderius lachte nur kopfschüttelnd: »Das sagt mir der richtige. War sonst noch was?«

      Der Bursche nickte ergebend und sprach sogleich weiter: »Ich soll Euch auch ausrichten, Euer Hengst, Wanderer, braucht vor der Abreise frische Eisen für die Hufe.«

      »Der Hufschmied soll sich darum kümmern. Ich will, dass Wanderer spätestens Morgen bereit zum Aufbruch ist.«

      »Ja, Herr«, der Bursche neigte das Haupt, zögerte jedoch. Es war ihm überdeutlich anzumerken, dass ihm noch etwas auf der Seele lag, was er sich jedoch nicht zu äußern wagte.

      »Was ist denn?«, fragte Desiderius belustigt. Er würde sich nie daran gewöhnen, dass die Leute so viel Respekt vor ihm hatten, dass sie scheinbar ihm gegenüber die Fähigkeit zu Sprechen verloren.

      Der Bursche kratzte sich an der Schläfe und wandte sich wieder an Desiderius: »Euer Ross ist … ein weiteres Mal ausgebrochen.«

      »Wann?«

      »Wir sahen es nicht, er war auf einmal nicht mehr in seinem Stall, Herr. Es tut mir leid-«

      Desiderius gebot ihm mit einer Handgeste Schweigen. »Beruhige dich, Junge, ich bin nicht wütend. Wanderer hasst den Stall, gelegentlich macht er einen Spaziergang. Selbst ich kann ihn daran nicht hindern. Er kommt wieder. Und wenn er da ist, ruft mich, dann helfe ich dem Schmied mit den Eisen.«

      Der Bursche lächelte und nickte ergebend. »Wie Ihr wünscht, Herr. Vielen Dank, Herr. Der Schmied wird sich geehrt fühlen.«

      Desiderius sah amüsiert auf. »Weshalb? Weil ihn ein hochmütiger Laie bei seiner Arbeit zur Hand gehen will? Ich fürchte, er wird sich gezwungen fühlen, mich zu erdulden, obwohl ich seine Arbeit behindere.«

      Der Bursche kämpfte mit einem Lächeln. Er schöpfte Mut aus Desiderius‘ charmanten Lächeln, und wagte zu fragen: »Weshalb wollt Ihr dann dabei sein?«

      »Ich will mein Pferd in guten Händen wissen«, zwinkerte Desiderius, »und dabei vielleicht noch etwas dazu lernen. Wer weiß, vielleicht werde ich Hufschmied, sollten wir diesen Krieg überleben.«

      »Ich sehe Euch nicht als Arbeiter, Herr.«

      »Dann falle ich wohl in der Schlacht, und überdauere die Zeitalter als Legende.«

      Es sollte ein Scherz werden, doch der Bursche blickte ernst zu Boden. »Das seid Ihr schon jetzt, mein Herr.«

      Nachdenklich betrachtete Desiderius ihn. Sein Gebaren erinnerte ihn auf schmerzliche Weise an die ersten Begegnungen mit Wexmell, während sie einander noch ausgetestet hatten. Als er mehr als ihm heute lieb war, Wexmells Gefühle durch bloße Kaltherzigkeit verletzt hatte.

      Desiderius hielt den Wetzstein still und schenkte dem Jungen seine ungeteilte Aufmerksamkeit. »Wie lautet dein Name, Junge?«

      »Aghi«, seine Augen leuchteten erfreut, »zu Euren Diensten, Herr.«

      »Versprich mir besser nichts, was mich auf dumme Gedanken bringen könnte«, lächelte Desiderius.

      Aghi lachte leise auf, das Geräusch erinnerte an ein liebliches Glockenspiel im sanften Wind, der über die Felder glitt.

      »Ahgi«, wiederholte Desiderius interessiert, »das ist doch kein westlicher Name. Woher stammst du?«

      Aghi berichtete, offensichtlich glücklich, die Aufmerksamkeit des Blutdrachen erlangt zu haben: »Mein Vater stammt aus Carapuhr. Nachdem sein Vater im Land des Eises einen schlechten Ruf als Taugenichts erlangte, kam mein Vater vor sechzig Jahren nach Nohva. Er begegnete meiner Mutter, die Dienstmagd auf dieser Festung war, zeugte drei Söhne, meine zwei älteren Brüder und mich.«

      Desiderius hörte ihm aufmerksam zu, und bedeutete ihm, sich ihm gegenüber auf ein Fass zu setzen. »Vor sechzig Jahren? Dein Vater ist wohl nicht mehr am Leben.«

      »Nein«, bestätigte Ahgi traurig, als er sich setzte. »Er starb bei einem Jagdausritt, als er König Wexmell Airynn vor einem wilden Eber rettete. Für seine Treue wurde er sogar hier auf dem Friedhof bestattet. Damals war ich noch im Leib meiner Mutter.«

      Bekümmert senkte Desiderius die Augen, als er daran erinnert wurde, dass Wexmells Überreste nicht hier beigesetzt wurden. Es gab kein Grab, an dem Desiderius hätte sitzen und Abschied nehmen können. Keine Asche, die er hätte in Nohvas milden Winden verstreuen können, damit Wexmell für alle Zeit ein Teil von ganz Nohva werden konnte.

      »Meine Brüder«, fuhr Ahgi schwermütig fort, »fielen in der Schlacht am Fluss. Ich war noch ein Kind und blieb in der Festung. Ich und meine Mutter waren hier, als der Bannzauber über uns gelegt wurde. Wir wissen nicht, was mit den Überresten meiner Brüder geschah, noch wie sie überhaupt starben.«

      Die Melancholie in dem Gesicht des Jungen, war ein Spiegel zu den Gefühlen aller Seelen auf dieser Festung.

      Desiderius atmete schwer aus und beugte sich vor, um Aghi eine Hand in den schmalen Nacken zu legen.

      Der Junge sah ihn nach Rat ersuchend an.

      »Wir alle haben viel durchlebt und viel verloren. Aber wir leben noch, und gemeinsam haben wir die Stärke, uns alles zurückzuholen, das man uns genommen hat!«

      »Nur die Toten können wir nicht lebendig machen.«

      Wahre Worte von einem verletzten Geist. Desiderius nickte traurig, die Worte waren wie ein Hammerschlag auf seiner Brust.

      Nichts würde Wexmell je zurückbringen.

      »Aber wir leben«, sagte er entschlossen, auch zu sich selbst, während er den Nacken des Jungen drückte und ihn aufmunternd anlächelte, »und es ist unsere Pflicht gegenüber den Toten, aus unserem Leben etwas zu machen.«


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