Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind - Wilhelm Thöring


Скачать книгу
genommen.’ Ja, so wird es wohl auch sein: es ist allein meine Last.“ Sie greift nach der Hand der Schwägerin. „Ich hoffe, in dir, Amalie ...“ Antonya spricht nicht aus, was sie sich von Amalie erhofft.

      Ohne dass sie es wahrgenommen haben, haben die Schlittenlenker den Rückweg eingeschlagen.

      Vor dem Haus werden Stanislaus und Antonya von einem Haufen aufgeregter Leute erwartet; es sind vor allem die Frauen aus der Küche, die palavernd neben dem Schlitten des einfahrenden Hausherrn her laufen und ihn umringen, so dass Stanislaus Mühe hat auszusteigen. Die Halina ist nicht unter ihnen, und das, so meint Antonya, sei verdächtig. Stanislaus, der beim Vorfahren des Schlittens der beiden Frauen herbeigeeilt ist, um ihnen und den Kindern beim Aussteigen zu helfen, raunt seiner Frau zu: „Unannehmlichkeiten. Geh in die Bibliothek und warte auf mich.“

      „Was gibt’s denn?“

      „Später, später ... Warte in der Bibliothek ...“

      Und damit läuft er zu den Ställen hin.

      Über die Schulter ruft er dem Bruder zu: „Jendrik, geh mit Amalie und allen Kindern in den Salon! Wir kommen gleich nach!“

      Beunruhigt, nervös geworden geht Antonya vor den Bücherschränken auf und ab. Mit meiner Unruhe hat die Halina zu tun, sagt sie sich. Das Luder will sich rächen und hat sich eine Hinterhältigkeit ausgedacht! Was findet Stanislaus nur an diesem pummeligen und gewöhnlichen Weibsbild? In wenigen Jahren ist die eine fette, eine trampelige Wachtel, die kommandiert und schreit und Teller an die Wand wirft!

      Antonya betrachtet ihr Spiegelbild in den langen Glasscheiben. Eine schlanke, aufrechte und gepflegte Frau blickt sie an, der die Männer zu Füßen liegen könnten, wenn sie es darauf anlegte. Weiß ihr Mann überhaupt noch, dass sie gut aussieht und manche der ersten Frauen der Stadt, mit der sie Umgang pflegen, in den Schatten stellt?

      Halina! Wenn sie doch dieses Mädchen ans Ende der Welt oder auf eine Insel wegschaffen könnte! Was mag die sich ausgedacht haben? Draußen, bei den Frauen, ist sie nicht zu sehen gewesen. Sollte die vielleicht versucht haben, sich selbst oder einem anderen etwas anzutun?

      Bei der Tür bleibt sie stehen, sie möchte in das Treppenhaus hinaussehen, weil sie unten verhaltene Stimmen hört, aber dann setzt sie sich mit klopfendem Herzen in einen Sessel, die Hände im Schoß, und wartet.

      Es dauert nicht lange, und leise wird die Tür geöffnet, nur ein wenig, und in dem Spalt erscheint Stanislaus, und hinter ihm taucht ein herabgekommener und stoppelbärtiger Mann auf in einem Mantel, der über den Boden schleift; sein Gesicht hat er unter einer zu großen Mütze versteckt.

      „Hier“, sagt Stanislaus, „diesen Menschen haben sie bei den Ställen erwischt. Ein Dieb! Vielleicht ein Halsabschneider!“ brüllt er durchs ganze Haus. „Der hat es wohl auf Geld oder Schmuck oder sonstwas abgesehen!“ Stanislaus schiebt den Mann ins Zimmer, so dicht vor Antonya, dass der fast ihre Fußspitzen berührt. Nachdem er die Tür zugedrückt hat, fragt er mit gedämpfter Stimme: „Erkennst du ihn nicht?“

      Der Fremde grinst auf die Frau herab; er zittert, als wäre er wirklich bei etwas Verbotenem erwischt worden.

      „Wer ist das?“ fragt sie.

      „Tonya ...“, flüstert der Fremde. „Tonya ...“

      Sie steht auf, um sein Gesicht besser sehen zu können; argwöhnisch starrt Antonya ihn an, dann stößt sie plötzlich einen leisen Schrei aus. Sie ist kreideweiß geworden und geht ein paar Schritte rückwärts und fällt vor Schreck in den Sessel zurück.

      „Krystian?“ stammelt sie. „Krystian ... Barmherziger Gott!“ Der Fremde grinst sie weiter an und nickt. Er nickt immerzu, als könnte er gar nicht damit aufhören. Plötzlich reißt er seine Mütze vom Kopf und wirft sie auf den Boden und ergreift ungestüm ihre Hand. „Tonya“, flüstert er wie eben. „Tonya, Tonya ...“ und küsst ihre Hand.

      „Krystian, wo kommst du her?“ fragt sie wie benommen und schlägt ihre Zähne in die Faust.

      Er hebt die Achseln. „Von überall und nirgends ...“

      „Von überall und nirgends“, wiederholt sie, als wäre sie nun im Bilde. Sie hat sich wieder erhoben und ist ein wenig zur Seite getreten, aus angstvollen Augen betrachtet sie den Bruder und schüttelt immerzu ungläubig den Kopf.

      „Wie du aussiehst!“

      „Erschreckend, nicht wahr? So ist es, wenn man die Gesellschaft wechselt, Schwester.“ Wieder nimmt er ihre Hand, um sie auf seine Brust zu drücken, auf diesen zerschlissenen und verdreckten Mantel. „Tonya, ich brauche Hilfe.“

      „Hilfe, ja ... Brauchst du ein Versteck?“ fragt sie.

      Wieder nickt der Mann.

      „Wie sollen wir dich hier verstecken, Krystian? Unsere Leute wissen, dass du hergekommen bist?“

      „Die meisten wissen es“, antwortet ihr Mann. „Aber sie haben ihn für einen Einbrecher gehalten und eingesperrt. Weißt du“, sagt Stanislaus nach kurzem Überlegen, „wir sagen ihnen, er sei wirklich ein Einbrecher ...“

      „Den wir so mir nichts, dir nichts einfach wieder laufen lassen?“ Über Antonyas Nasenwurzel erscheinen die scharfen steilen Falten, die sie immer dann bekommt, wenn sie angestrengt nachdenkt, oder wenn sie unwillig oder böse wird.

      „Lass mich das machen“, rät Stanislaus, der sich insgeheim darüber freut und eine gewisse Genugtuung verspürt, seine Frau nach dem Streit wegen der Halina in dieser misslichen Lage zu sehen und ihr helfen und beistehen zu können, und außerdem wird sie die Sache mit dem Küchenmädchen vergessen. Er sagt: „Ich werde den Krystian fürs erste in der Fabrik unterbringen. Dann werden wir weitersehen.“

      „Wissen die Eltern, dass du hier bist?“ fragt Antonya.

      Der Mann lächelt sie an. „Aber nein. Wie könnte ich sie in Gefahr bringen? Die wissen nichts von mir! Gar nichts. Die halten mich doch für tot, glaube ich. Oder sie denken, ich sitze im Zuchthaus, oder ich bin in der Verbannung.“

      „Was hast du denn diesmal angestellt, Krystian?“

      Wieder lächelt er. „Was ich tun muss, Tonya, das weißt du doch. Eine Sache, die jedem guten Polen zur Ehre gereicht, wenn sie gelingt, Tonya. Wenn du es wissen willst: eine Bombe auf den Großfürsten geworfen. Leider ging es daneben, leider.“

      „Du großer Gott! Warst du allein?“

      „Allein, Tonya, sind wir nicht, weil wir allein nichts sind. Wir Polen sind nur stark, wenn wir uns vereinigen und auf unser Ziel einschwören. Alle Polen müssen sich vereinigen und für die heilige Sache kämpfen, Tonya. Nicht nur die Jungen. Nicht nur die Intellektuellen, Tonya, alle ... Hörst du: alle!“

      Antonya winkt ab. Sie ist dicht an den Bruder herangetreten, dass einer den Atem des anderen spürt. Sie reckt sich auf die Zehenspitzen und drückt wie eingeschüchtert einen Kuss auf Krystians Stirn.

      „Krystian“, sagt sie leise, und dabei nimmt sie sein stoppeliges Gesicht in die Hände. „Krystian, Krystian, wie unselig, dass du von solchen Gedanken besessen bist! Vielleicht reibt ihr euch vergeblich auf, und euer Leben opfert ihr auch vergeblich. Glaube mir, die Zeit wird das lösen, was ihr nicht lösen könnt. Du machst nicht nur dich unglücklich, Krystian, du machst uns alle unglücklich. Unsere Eltern leiden. Sie werden darüber sterben, Krystian ... Wo du gehst, da ziehst du eine Blutspur. Das wird dich verderben, das wird deine Genossen verderben und auch uns. Was habt ihr dann erreicht?“

      Und plötzlich schlingt sie ihre Arme so wild um seinen Nacken, dass der Mann erschreckt zurückweicht.

      „Ein Versteck, Tonya, nur für diesen Tag. In der Dunkelheit werde ich wieder verschwinden. Helft mir, nur dieses Mal.“

      „Damit, dass du hier aufgetaucht bist, hast du uns in eine schlimme Sache hineingezogen, Krystian.“

      Krystian hebt die Schultern. „Ja, ich weiß, ich weiß. Was soll ich denn machen, Tonya?“


Скачать книгу