Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind - Wilhelm Thöring


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schwerer.

      Sie steht auf die Hacke gestützt hinter dem Zaun und sieht ins Land. Die Bäume fangen an grün zu werden, sie leuchten gegen den wässerig blauen Himmel, an dem unbeweglich ein paar Wolkenfetzen hängen. Die Luft ist erfüllt vom Gesang der Vögel. Es ist noch sehr früh. Sie muss die ersten Stunden des Tages nutzen, wenn sie etwas schaffen will. Die geringsten Arbeiten laugen sie aus, und zu arbeiten gibt es von früh bis spät genug. Darum verrichtet sie zuerst das, was ihr die meisten Kräfte abverlangt.

      Gartenarbeit hat sie immer tief befriedigt, auch jetzt in diesem Zustand. Aber sie geht ihr nicht so leicht von der Hand wie sonst. Amalie muss häufig längere Pausen einlegen.

      Im Haus hört sie die Kinder. Wenn sie im Frühjahr oder bei schlechtem Wetter im Garten zu tun hat und die Kleinen nicht dabei haben kann, dann öffnet sie stets eins der Fenster auf einen Spalt, um verfolgen zu können, was die in der Stube treiben.

      Langsam, mit gesenktem und baumelndem Kopf, kommt die bucklige Wanda die Straße herauf. Sie ist auf dem Weg ins Feld oder in den Wald, um die ersten brauchbaren Blätter, Stengel oder Knollen für ihre Tees zu sammeln, auf die sie schwört, weil sie damit allerlei Krankheiten heilt. Trotz ihres hängenden Kopfes entgeht ihren Augen nicht, wo sich jemand aufhält, mit dem sie ausgiebig plaudern oder tratschen kann.

      Mit beiden Händen hält die Wanda sich am Lattenzaun fest und streckt sich in die Höhe.

      „Du bist stark wie bei allen letzten Kindern“, sagt sie und rollt bedeutungsvoll mit den Augen. „Diesmal wird es wieder ein Junge werden, das sieht man.“

      Amalie wischt sich die Stirn, sie lacht. „Ob Junge oder Mädchen - wenn es nur gesund ist.“

      Die bucklige Wanda winkt Amalie zu sich heran, als wollte sie ein Geheimnis loswerden. „Du musst achtgeben“, raunt die Bucklige. Ihre krumme Hand legt sich wie ein Tier auf Amalies Bauch. „Ich habe einen Stern gesehen, Amalie. Kein guter Stern, kein guter ... Wann wirst du dein Kind auf die Welt bringen?“

      Amalie stößt die Hand weg. „Im Sommer. Im Juni wird es sein“, sagt sie ärgerlich.

      „So, so. Weißt du, dass das die Zeit der Nachtschwalbe ist? Keine gute Zeit, ein Kind auf die Welt zu bringen. Ich rate dir: geh nicht in den Wald! Meide ihn. Du weißt, da ist die Nachtschwalbe zuhause. Sie hat Macht über die Kinder, ja auch schon über die ungeborenen ...“

      „Bist du gekommen um mir Angst zu machen, Wanda? Geh weiter. Ich glaube das nicht.“

      „Sei auf der Hut, Malscha, du trägst ein Kindchen, einen Jungen. Junges Leben ist immer in Gefahr. Und dann war da noch der Stern, den ich gesehen habe ... Nichts Gutes für uns alle, glaube mir. Unheil liegt in der Luft. Großes Unheil, großes Unheil.“

      „Geh du zu deinen Kräutern. Meine Kinder schreien. Sie brauchen mich!“ Amalie lässt die Hacke fallen und läuft ins Haus.

      Diese alte bucklige Hexe! Warum lass ich mich von der Alten bloß erschrecken und kopfscheu machen? „Du alte Krähe, du!“ ruft sie hinterher. „Du bist ja nicht bei Trost!“

      Sie rennt zu den Kindern in die Stube und reißt die Zwillinge an sich. Sie drückt sie so fest, dass sie Angst bekommen und zu brüllen anfangen.

      „Sie ist doch nur neidisch“, sagt sie. „Dieses Waschweib! Hat nie Kinder gehabt. Sieht gelb und grün auf die, die welche im Haus haben. Hexe!“

      Der Mann steckt seinen Kopf durch die Tür. „Warum schimpfst du, Malchen?“

      „Die Bucklige, die alte Hexe ... Kommt daher und jagt mir einen Schrecken ein, dass mir ganz elendig wird!“

      „Nun, wenn du sie nicht davonjagen kannst – dann lass sie doch einfach stehen und gehe weg.“

      Als sie wieder bei der Arbeit ist, hält sie Ausschau nach der buckligen Wanda. Die Alte hat mit ihren Worten etwas in Amalie eingepflanzt, das sie nicht ausreißen kann. Den ganzen Tag gehen ihr die Drohungen durch den Kopf.

      Später im Bett, als sie auf den Schlaf wartet, da springt die Angst sie wieder an und wird noch drückender; sie hat vorhin mit ihrem Mann darüber sprechen wollen, aber der hat sie nur ausgelacht und ist gleich eingeschlafen.

      Heute gibt es einen schönen Tag. Nach dem Regen in den letzten Tagen ist die Erde grün geworden; so weit das Auge sehen kann, sieht es schwarzen fetten Boden, vereinzelt von einem hellen grünen Schleier überzogen.

      Jendrik Erdmann kommt mit aufgekrempelten Ärmeln in den Hof. Er ist braun geworden, seitdem er draußen an seinem Haus arbeitet. Morgen wird er die Wand mit Lehm abdichten können. Den abgeschlagenen Putz hat er von den Kindern zerkleinern lassen und ihn dann in einem Zuber aufgeweicht. Jetzt ist er soweit, dass er verarbeitet werden kann.

      Aus dem Haus dröhnt das Stoßen und Stampfen der Webstühle, an denen der Gehilfe Witold mit den drei größeren Kindern arbeitet. Der dreizehnjährige Berthold, den Amalie nur liebevoll Bertel nennt, hat sehr früh für nichts anderes Interesse gezeigt als für die Webstühle, für das Haus und den Hof. Jedem Besucher erklärte er, und da war er erst ein fünf- oder sechsjähriges Kind, das auf seinen nackten fleischigen Füßen herumpatschte, dass dies einmal sein Hof, sein Haus und seine Webstühle sein werden. Er konnte es am wenigsten erwarten, endlich wie die Großen weben zu dürfen. Seine um ein Jahr jüngere Schwester Adelheid versucht, so ausdauernd wie der Bruder hinter dem Webstuhl zu sitzen. Wenn sich aber eine Gelegenheit findet, den Platz verlassen zu können, dann verschwindet die Adelheid und vergisst die Arbeit. Mit Rosa, dem dritten Kind, müssen die Eltern nachsichtig sein. Obwohl die Rosa in diesem Jahr elf wird, ist sie ein fünfjähriges Kind geblieben. Blass ist sie und schwach und immer kränklich. Sie klagt oft über Schmerzen im Bauch und über ein Stechen im Kopf. Manchmal kann sie morgens die Augen nicht öffnen, weil sie von Eiter verklebt und verkrustet sind und sie quälen.

      „Rosa, mein Kindchen, bleibe liegen“, beruhigt Amalie das wimmernde Kind. „Ich werde dir mit lauwarmem Tee die Augen auswischen. Und wenn das nicht hilft, dann werde ich zum Arzt gehen.“

      Aber Rosa weigert sich jedes Mal, im Bett zu bleiben. Gleich nach dem Frühstück hockt das Kind wieder auf der Bank des Webstuhls und lässt auf seine langsame Art die Schiffchen laufen. In die Schule kann sie nicht gehen, weil sie nur schwer begreift, was man von ihr erwartet und weil sie die Augen nicht anstrengen darf.

      Der Berthold will nicht in die Schule. Wenn man nur ordentlich weben und dazu noch seinen Acker bestellen kann, meint er, das reiche fürs Leben. Er hat nur so viel gelernt, dass er ein wenig lesen und ein paar Buchstaben schreiben kann. Hingebungsvoll hat er, wenn er Lust dazu hatte, seine Unterschrift geübt, die er gekonnt hinmalt, wenn es einmal sein muss. Ganz anders verhält es sich mit dem neunjährigen Edmund. Er besitzt einen raschen und wachen Verstand, der sich für jede noch so simple Arbeit allerlei Erleichterungen oder Verfeinerungen ausdenkt. Es gibt aber niemanden, der sich seine Schnapsideen, wie der Vater sie nennt, anhören will. Nein, wenn Edmund auftaucht und seine Hilfe anbietet, dann ist bei den Leuten sofort eine Gereiztheit zur spüren. Sie winken ab und schicken ihn schnell wieder weg, und man ist froh, ihn ohne großes Lamento, ohne seine bohrenden Wenns und Abers losgeworden zu sein.

      Jendrik steht in der Frühlingssonne und lauscht auf das Klopfen, auf das Durcheinander und das Gegeneinander der Webstühle. Bald wird er sieben Webstühle hören können! Expandieren nennt sein Bruder das; aber Jendrik weiß nicht, was es bedeutet, und den Bruder fragen, das mag er nicht, um nicht verlacht zu werden; ja, expandieren, das will Jendrik auch. Der Bruder erinnerte ihn: ‚Haben nicht alle Erdmanns vor ihm ebenso gedacht und gehandelt? Damit haben sie uns ein ansehnliches Anwesen hinterlassen, das der Familie Respekt im Ort verschafft und ihrem Wort in den Versammlungen ein gewisses Gewicht gegeben hat.’ Ja, Jendrik will sich ebenso wie seine Vorfahren darum bemühen, das, was er übernommen hat, zu vergrößern. Er wird seinen Besitz vermehren und somit dem Namen und dem Ansehen seiner Kinder im Ort noch mehr Wichtigkeit geben.

      Er beobachtet eine Katze, die, ein Junges im Maul tragend, vorsichtig aus dem Fenster des Geflügelstalles in den Hof springt.

      Ja, so ist das unter dem Dach seines Hauses:


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