Unter dem Ostwind. Wilhelm Thöring

Unter dem Ostwind - Wilhelm Thöring


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Leute rüsteten sich für den Bittgottesdienst, denn der Mai geht zu Ende.

      In jedem Jahr kommen am letzten Maisonntag die Menschen aus der Stadt und dem Umland zu diesen Bittgottesdiensten zusammen, um derer zu gedenken, die zuletzt vor über dreißig Jahren, das war im Jahre achtzehnhundertsechsundsechzig, von der Cholera dahingerafft worden sind. Katholiken und Protestanten, Deutsche wie auch Polen machen sich gemeinsam auf. Einträchtig fahren dazu unterschiedliche Familien in einem Wagen in die Stadt. Vor der eigenen Kirche verabschieden sie sich, um hernach in der Weise, wie sie gekommen sind, auch wieder den Heimweg anzutreten. Dieses gemeinsame Fahren hat noch einen anderen Grund.

      Damals, das hatte jeder von den Älteren noch lebhaft im Gedächtnis, starb allein in dieser Stadt ein Zehntel der Bevölkerung. In wenigen Monaten war der Friedhof belegt, und als man nicht mehr wusste, wo man die Toten begraben sollte, kam von der Starosterei die Verfügung, dass jeder Bürger zur Erweiterung des Friedhofs zwei Rubel an die örtliche Verwaltung zu entrichten habe. Mit diesem Geld wurde dann in aller Eile der Friedhof erweitert und auch gleich ein zweiter geplant. Nach einem guten Jahr war dieser zweite Friedhof dann so weit hergerichtet, dass er genutzt werden konnte. Man wollte gerüstet sein für den Fall, dass die Seuche noch einmal auftreten und im Land wüten sollte. Sodann war in die Bittgottesdienste mit der Zeit noch etwas ganz anderes hineingekommen.

      Es gab vielfältige Nöte, die die Menschen drückten und ihnen das Leben schwer machten. Lange Winter, in denen sie nicht nur froren, sondern auch erfroren. Und alle paar Jahre gab es Missernten, wie sie sie erst vor kurzem erlebt hatten. Hin und wieder brannte schon einmal ein Haus, und da nicht wenige Häuser aus Holz gebaut waren, breitete sich das Feuer in Windeseile aus und vernichte ganze Viertel oder Straßenzüge. Und oft genug starben Menschen in den Flammen, oder sie wurden von einstürzenden Dächern oder Wänden erschlagen.

      Dieses Erleben, solches Wissen floss in die Bittgottesdienste mit ein.

      Das Fürchterlichste aber war die Cholera. Sie wurde als ebenso schlimm empfunden wie die Knechtung durch die russischen Usurpatoren.

      So wurde in den Bittgottesdiensten am letzten Maisonntag an diese beiden zentralen Ereignisse gedacht: an das letzte Wüten der Cholera und an den Januaraufstand der polnischen Patrioten gegen ihre Unterdrücker, der sich drei Jahre vor dem letzten Auftreten dieser Seuche ereignet hatte.

      Mit aller Härte war damals gegen die Aufständischen und gegen jeden, den man dafür hielt, vorgegangen worden. Ein Heer von Soldaten und von Spionen hatte das Land überzogen, um mit Verhaftungen und Hinrichtungen und dem Verwüsten von Höfen und ganzen Dörfern den patriotischen Gedanken der Polen und ihrer Sympathisanten auszumerzen.

      Vielfach versuchten die Russen, Misstrauen und Hass zu säen zwischen der polnischen und der deutschstämmigen Bevölkerung, und sie versuchten durch hohe Belohnungen die Deutschen dazu zu bewegen, ihr Mitwissen über geheime Verschwörungen von Widerstandskämpfern und Anarchisten preiszugeben und an deren Ergreifung mitzuwirken.

      „Wir leben im Lande unserer polnischen Brüder, ihr Schicksal ist unser Schicksal, ihr Leid ist unser Leid, ihre Sehnsucht nach Freiheit ist auch unsere Sehnsucht!“ So konnte man es am letzten Maisonntag von den Kanzeln vieler deutscher Kirchen hören, und eine aufmerksame und bereite Gemeinde pflichtete dem Prediger bei; sie tat es durch Nicken oder Seufzen oder auch schon einmal durch zustimmendes Gemurmel.

      „Durch die polnische Erde, die uns alle nährt und am Leben erhält, sind wir miteinander verbunden. Und diese Erde ist der Schoß, aus dem wir gekommen sind und zu dem wir zurückkehren werden. Sie ist nicht nur die Mutter der Polen, sie ist auch unsere Mutter. Somit sind Polen und wir, deren Väter dieses Land zu ihrer und zu unserer Heimat erwählt haben, Brüder; und wenn ein Bruder leidet, dann leiden die anderen Brüder mit. Hat ein Bruder Anlass zur Freude, dann teilt er auch sie mit seinen Brüdern ...“

      Der junge Prediger ist erregt; er ist nach und nach in Hitze gekommen. Seine Erregung ist so groß, dass er mehrmals mit der Faust auf die breite Brüstung der Kanzel schlägt und dass er, mit dem Finger durch seinen Hemdkragen fahrend, sich Luft verschaffen muss.

      Manchmal bohrt sich sein Blick in das Gesicht des einen oder anderen fremden Gottesdienstbesuchers, weil es nicht die Spur einer Gemütsbewegung erkennen lässt, und in dem jungen und heftigen Prediger der Verdacht aufkommt, dass da ein Schnüffler an der Säule lehnt oder sich in die harte Kirchenbank gequetscht hat; vielleicht ist es sogar jemand von der geheimen Polizei.

      Wenn er doch seine Gemeinde schon besser kennen würde! Wenn er von seinem Vorgänger Informationen bekommen hätte! Aber den haben die Pferde, aufgeschreckt von irgendeinem Tier, mit seiner Kutsche, aus der er sich, wohl wegen seiner Dickleibigkeit, nicht befreien konnte, geradeswegs in die Warthe gefahren, wo er mitsamt dem Gespann ertrunken ist. Daraufhin hat das Konsistorium ihn in diese Stadt entsandt, in der er mehr Deutsch als Polnisch auf der Straße hören kann.

      Zum Ende des Gottesdienstes singt die Gemeinde: ’Verleih uns Frieden gnädiglich, Herr Gott, zu unsern Zeiten‘. Sie singt es laut wie eine kampfbereite Bruderschaft, die einen bemerkenswerten Entschluss gefasst hat und ihn jetzt einem weiten Umkreis mitteilt.

      Unangemessen schnell, keck und aufrecht, nicht mit jenem feierlichen Ernst und demütig gesenktem Kopf, wie es der Anstand fordert, und wie die Gemeinde es bei ihrem verunglückten Pastor sah, ist der junge Pastor bei diesem Choral in die Sakristei geeilt; findet die Gemeinde.

      Nach dem Gottesdienst bleiben Männer und Frauen noch, wie sie es nach jedem Gottesdienst zu halten pflegen, auf dem Platz vor der Kirche beisammen.

      „Mut, ja, das ist ein Vorrecht der Jungen“, behauptet, seinen Bart zwirbelnd, Heinrich von Lehndeckel, der pensionierte Lehrer, den die Predigt offensichtlich aufgewühlt und erregt und die ihm eingeheizt hat, denn er betupft unablässig Stirn und Glatze mit einem auffallenden Taschentuch.

      „Uns fehlen Leute, die so unverhohlen Farbe bekennen.“ sagt er in die Runde, und dabei wippt er auf den Zehenspitzen und nimmt eine Haltung ein, wie die Gemeinde sie vorhin beim Pastor in der Kanzel gesehen hat.

      „Nun ja, das mag schon stimmen“, sagt der Hufschmied Nagelschur und gibt sofort zu bedenken: „Aber man wagt damit doch allerhand. Nicht nur für sich selbst, sondern auch für die, die einem anvertraut sind, nicht wahr? Selbst für jene kann es gefährlich werden, die solchem Redner zuhören. Das kennen wir doch alle!“ Und dabei blickt er Herrn von Lehndeckel herausfordernd mit schrägem Kopf an.

      „Ja, ja, das kennen wir ...“ Die Älteren und Alten nicken.

      „Wir haben schlimme Zeiten hinter uns“, meldet sich ein zahnloser, faltiger Greis. „Warum soll man sie durch Unvorsichtigkeit wieder heraufbeschwören?“

      „Was wollt ihr denn bewahren? Ungerechtigkeit? Unterdrückung? Verrat?“, ereifert sich Herr von Lehndeckel. „Mit solcher Vorsicht bewahrt ihr doch nur diese miserablen Zustände! Offenheit ist gefragt! Mut!“

      Sie streiten ein wenig, während ihre Frauen beratschlagen, wie sie durch Liebesgaben die vielfältige Not, vor allem unter den Alten und den verarmten Fabrikarbeitern lindern können.

      „Wissen Sie, wir sollten einen Hülfsverein ins Leben rufen“, schlägt Frau von Lehndeckel vor, deren behandschuhten Hände immer mit einem weißen Spitzentüchlein wedeln. „Einen richtigen Verein. Mit Satzungen, mit einem Vorstand und einer, die die Kasse verwaltet. Eben mit allem, was dazugehört.“

      Keine der Damen hat Einwände, sie haben auch nichts zu bedenken – nein, sie sind von diesem Vorschlag geradezu hingerissen. Eine steckt die andere mit ihrer Begeisterung und ihrem Eifer an. Sofort treten diejenigen vor, die von ihren Fähigkeiten und Talenten für diese Aufgabe überzeugt sind.

      Die Frau des Kantors, die für sich keine Chancen sieht und die den Hülfsverein nicht allein in den Händen dieser Damen sehen möchte, schlägt vor: „Wer von uns wäre geeigneter, meine Damen, als die Frau Pastor Wohlgethan? Wir haben nicht nur einen unerschrockenen Pastor, wie wir es soeben erlebt haben, wir haben auch eine recht couragierte Pastorenfrau Die wird mit Geschick und Beharrlichkeit die Dinge angehen. Und mutig, meine Damen, ist sie wie ihr Mann!“

      Mit


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