Schatten und Licht. Gerhard Kunit
sie gemeinsam Sybillas umfangreiche Forschungsergebnisse auf und stießen dabei immer wieder auf unbekannte Fragmente und überraschende Erkenntnisse.
„Der kundige Anwender bleibt dem Flux der Zeit unterworfen, vermag ihn aber vom Flux seiner Umgebung zu trennen.“ Sybilla stutzte. „Heißt das, die Zeit läuft weiter, aber man merkt es nicht?“, fragte sie zweifelnd.
„Sieh Dir diese Deskription an“, schlug Semira vor. „Die können wir mit Deiner Passage in Relation setzen: Garind hielt den Krug so plötzlich in der Hand, als wäre er ebenda materialisiert. Juweins Überwachung bewies, dass keine Objektmagie im Spiel war. Garind sagte, er hätte sich normal bewegt, während wir seltsam erstarrt gewirkt hätten. Das Aufleuchten, das Juwein und ich gleichermaßen wahrgenommen hatten, konnte uns Garind nicht erklären. Er beharrte darauf, nichts dergleichen beobachtet zu haben. Weiter unten geht es um ein temporäres Verschwinden des Anwenders. Die Zeit scheint für Beide weiterzulaufen, aber unterschiedlich schnell.“
Die zitierten Stellen konnten nur die Ausübung temporaler Magie beschreiben. Wie zum Hohn beinhalteten sie aber weder Quellen- noch Zeitangaben, ganz zu schweigen von einer dahinter stehenden Thesis.
Die spärlichen Berichte über erfolgreiche Manipulationen der Zeit sprachen von wenigen Augenblicken. War es möglich, Monde oder gar Jahre zurückzugehen? Konnte die Kenntnis der ursprünglichen Zeitformeln gar Verjüngung und ewige Jugend bedeuten, wie es die Legenden erzählten? Sybilla wusste es nicht.
Ihr Blick glitt zum Fenster. Die Nacht war schon hereingebrochen. Wie so oft hatten sie Stunden verbracht, ohne sich der verstreichenden Zeit bewusst zu werden. Manchmal erschien ihr selbst das als Narretei einer unerkannten, aber allgegenwärtigen Zeitbeugung. Trotz des magisch verstärkten Kerzenlichts schmerzten ihre Augen. Sie bedeutete Semira die Studien zu unterbrechen.
Da flog die Türe auf und ein Laborant stürzte herein. Die Magierin hatte eine scharfe Zurechtweisung auf der Zunge, die sie sich verbiss, als sie das blasse Gesicht des Mannes bemerkte. „Ein Unfall“, stammelte er. „Im Labor. Entschuldigung.“
Sybilla wechselte einen Blick mit Semira, bevor sie den Mann anfuhr: „Reiß Dich zusammen! Was ist passiert?“
„Magister ya Turdon, Magistra, Euer Gnaden. Kommt schnell.“
Sie war schon halb zur Türe draußen, als sie der Laborant zurückrief: „Brandsalbe! Wir brauchen Brandsalbe, Herrin!“
* * *
Das Labor glich einem Trümmerfeld. Der Boden war mit Splittern aus Glas und Keramik bedeckt, zwischen denen sich verschiedenfarbige Flüssigkeiten vermengten. Winzige, gleißend grüne Explosionen blitzten aus den gelblich-grauen Schwaden. Fenrik ya Turdon lag reglos im Gang vor dem Labor. Sein Gesicht und seine Hände wiesen eine grellrote Verfärbung auf, die eine sofortige magische Versorgung erforderte. Ein Novize und eine Laborantin hockten am Boden und behandelten ihre Fußsohlen, die sie sich bei der Rettung des Magisters verätzt hatten. Als sich Sybilla zu dem verletzten Fenrik beugte, wurden sie sich der Gerüche bewusst, die an ihre Nase drangen. Weißmuth, Brandextrakt, Kalikonzentrat?
Sie schrak hoch und sah, wie die ölige Schwefellösung den geborstenen Behälter mit dem Brandextrakt erreichte. „Weg! Alle raus! Wir müssen weg hier!“, gellte ihr Warnruf durch die Gänge. Sie umfasste Fenriks Knöchel, um ihn wegzuziehen, doch ein Blitz ließ sie herumfahren.
Im grellen Licht der Explosion zerstob die Wand zum Labor in Myriaden von Trümmern. Die Zeit stand still, während Wand- und Ziegelfragmente erschreckend gemächlich auf sie zu schwebten. So erlebt man also Zeitmagie, schoss es ihr durch den Kopf. Ihr Blick fixierte einen kantig gebrochenen Ziegelstein, der im nächsten Augenblick ihren Schädel zerschmettern musste.
Der Brocken zerbarst vor ihrem Gesicht. Ein kaum wahrnehmbarer Lichtschein knisterte dort auf, wo größere Trümmer auf die schützende Sphäre trafen und zerbrachen. Sybilla wurde zurückgeworfen und erkannte Semira, die in die Knie ging, während sie die Arme vorstreckte. Ihr Zauberschild widerstand der Wucht der Explosion nur einen Lidschlag lang, aber das rettete ihre Leben. Fenrik hatte weniger Glück gehabt. Die unverletzte Haut unterhalb der Knie zeigte, wie weit Semiras schützender Zauber gereicht hatte.
* * *
„Brandextrakt? Wieso in TANIS Namen Brandextrakt?“, murmelte Sybilla. Ya Turdon arbeitete an Duftelixieren, Liebestränken und Tinkturen für glattere Haut, teuren aber belanglosen Nichtigkeiten. Wieder ein mysteriöser Auftrag, von dem niemand wusste? Waren Fenriks Machenschaften noch finsterer, als sie ahnte? Davon abgesehen war er einer der erfahrensten Alchimisten, die sie gekannt hatte. Wieso sollte er einen so elementaren und zugleich dummen Fehler begehen?
Nachdenklich sah sie zu Semira. Die Novizin starrte ausdruckslos in die Bresche, welche die Explosion in den Laborflügel gerissen hatte. Im Licht der Flammen wirkte ihr Profil unwirklich, und ihr Haar leuchtete vor dem Nachthimmel wie flüssiges Gold.
Kein Wunder, dass sie Jedem zwischen fünfzehn und fünfundsechzig den Kopf verdreht, dachte sie in einem Anflug von Neid, ehe ihre Gedanken zu dem Unfall zurückkehrten. Semira? Enttäuschte Liebe war ein starkes Motiv. Sybilla schüttelte den Kopf. Während des Unfalls und die Stunden davor war sie bei ihr gewesen. Dennoch wollte ein flüchtiger Gedanke ihren Verdacht erneut auf die Novizin lenken. Törichtes Weib, schalt sie sich. Ich sollte ihr dankbar sein. Ihrer Geistesgegenwart verdanke ich mein Leben.
* * *
Die Magierin lag noch viele Stunden wach. Fenrik ya Turdon könnte die Explosion absichtlich ausgelöst haben. War er tatsächlich in die Verschwörung gegen den Stadtmeister verwickelt? Hatte er seine Auslieferung befürchtet? Wollte er Beweise zerstören? Sybilla Ternakis war froh, dass sie ihren Verdacht gegen Semira nicht vorschnell ausgesprochen hatte. Es widerstrebte ihrem Naturell, sich für logische Schlussfolgerungen zu entschuldigen. Genau genommen widerstrebte es ihr generell, sich zu entschuldigen.
Fenrik ya Turdon war tot. Sie lebte. Besser als umgekehrt. Sie rollte sich auf die andere Seite und schlief endlich ein.
* * *
Zauber und Stab
Jahr 26 des Kaisers Polanas, Winter
Lothran, Novize an der Akademie des Kampfes zu Bethan
„Wie kämpfen Magier?“, lautete Magistra Feuerstaubs Frage.
Mit Magie natürlich, war Lothrans erster Gedanke, aber diese Antwort war natürlich viel zu einfach. Sein Blick wanderte von Nikki über die hoch aufgeschossene Sylva zur blonden Satina. Selbst Farin, der Streber, hielt sich im Hintergrund. Die meisten von ihnen besuchten die Bethaner Akademie seit mehr als zehn Jahren, doch nun drohten sie an einer trivialen Frage zu scheitern.
Wie kämpfen Magier? Die einfache Antwort? Warum nicht? „Mit Magie“, durchbrach Lothran das peinliche Schweigen. Nikki und Farin verdrehten die Augen.
„Richtig Lothran, mit Magie“, stimmte Magistra Feuerstaub unerwartet zu. „Doch wie setzen wir sie effektiv ein?“
„Zur Verteidigung?“, meinte Sarina zögerlich.
„Das ist eine Möglichkeit“, erläuterte die rothaarige Kampfmagierin. „Defensive Magie kostet weniger Kraft als aktive Angriffsschläge. Wenn Ihr eine Folge offensiver Zauber abwehren könnt, verschiebt sich das Kräfteverhältnis zu Euren Gunsten. Welche Taktik würdet Ihr also wählen?“
„Die Verteidigung“, bekräftigte Sarina zuversichtlich und Lothran nickte. Auch die übrigen schlossen sich der Meinung an.
Nur Sylva schüttelte den Kopf. Die Magistra sah sie herausfordernd an. „Du bist anderer Meinung?“
„Angriff“, sagte die Novizin bestimmt. „Ich wähle den Angriff.“
Farin verzog den Mund und verlieh damit seinem Missfallen über ihre Borniertheit