Schatten und Licht. Gerhard Kunit
„Es wird Zeit, dass ich alte Frau Euch junges Volk alleine lasse. Achtet mir auf das Feuer, bevor Ihr zu Bett geht.“
Liberna Radina wusste um ERUs Macht, die sich heute Nacht entfaltete. Es war nur recht und billig, dass sie, als Herrin, nicht mitbekam, was in dieser Nacht noch geschähe. Sie lenkte ihre Schritte zu dem abgezäunten Viereck, in dem Gendar seit vier Sonnenläufen ruhte. Es war ein gutes Leben gewesen, das sie geführt hatten und für sie war es das noch.
Sie dankte UNA für ihre Gnade und wandte sich dem Haupthaus zu. Während sie zu Bett ging, drangen fröhliche Stimmen und schnelle Weisen an ihr Ohr. Liberna Radina schlief lächelnd ein und JANARA, die Göttin der Träume, meinte es gut mit ihr.
* * *
Tonio Radina
In Tonio loderte ein nie gekanntes Feuer. Seine Augen folgten der Unbekannten wie unter einem magischen Bann. Es war ihm, als wäre ERU selbst nach Castelgionda herabgestiegen, um seine Leidenschaft zu entfachen. Verlegen trat er von einem Fuß auf den anderen, während er versuchte unbefangen zu wirken. Raffaella, strich der Name lockend durch seine Gedanken.
Er sah zu Lyon. Zunächst vermeinte er Spott zu erkennen, aber sein Bruder nickte ihm mit einem Seitenblick auf die Fremde aufmunternd zu.
Der Feuerschein verlieh der Händlerin ein unwirkliches, überirdisches Aussehen und Tonio konnte den Druck in seiner Hose nicht länger ignorieren. Er trat an den Bottich und fiel in das aufpeitschende Händeklatschen ein, mit dem schon andere junge Männer die Damen ihres Herzens anfeuerten. Cyrus, einer der Knechte, warf ihm einen finsteren Blick zu, stellte sich neben ihn und klatschte ebenfalls für die schöne Fremde. Zu jedem anderen Zeitpunkt wäre das gegenüber dem Sohn der Matriarchin ungebührlich gewesen, aber die Nacht des Weinfests hatte ihre eigenen Regeln. Tonio nahm die Herausforderung an.
Raffaellas Bewegungen wurden eckiger, als die ungewohnte Anstrengung ihren Tribut forderte. Sie hielt inne und wandte sich den Männern zu. Mit einem Lächeln streckte sie jedem einen Arm entgegen und vermied damit eine frühzeitige Entscheidung. Die Rivalen hoben sie mit Leichtigkeit aus dem Bottich, doch als ihre Beine den Boden berührten, gaben ihre Knie nach. Sie taumelte gegen Tonio, der sie bereitwillig auffing.
„Danke“, hauchte sie, während sie sich an seiner Brust abstützte. Sein Herz machte einen Sprung. Er schnitt Cyrus eine Grimasse, die sogleich einfror, als sich Raffaella dem Knecht zuwandte.
„Auch Euch aufrichtigen Dank, junger Mann“, drang ihre Stimme an Tonios Ohr, während ihre Lippen Cyrus‘ Wange streiften. „Ihr seid?“
Geschieht Dir recht, dachte Tonio, als der Knecht nicht einmal seinen Namen herausbrachte, doch die schöne Händlerin ließ nicht locker: „Erklärt mir mal die Spielregeln von Eurem hübschen Fest. Ich will ja nicht schon am ersten Abend in den Fettnapf treten.“ Sie funkelte Cyrus an und dann Tonio.
„Also, es gibt keine Regeln“, stammelte er.
„Nur eine“, ergänzte der Knecht. „Was immer heute Nacht passiert, ist morgen vergessen.“
„Die Regel gefällt mir“, bemerkte sie. Ihr Lächeln verbreiterte sich zu einem spitzbübischen Grinsen. „Ich möchte mir die Sterne ansehen. Kennt Ihr ein abgelegenes Plätzchen, wo der Feuerschein nicht so stört?“ Züchtig, fast scheu, senkte sie den Blick. „Ihr werdet doch ein einsames Mädchen heute Nacht nicht alleine lassen?“
Die Männer funkelten sich an und nahmen eine bedrohliche Haltung ein. Keiner wollte zurückweichen, aber Tonio schlotterten die Knie, da Cyrus kräftiger war als er. Andererseits wusste er, dass Raffaella ihn begehrte. Als die Spannung unerträglich wurde, spürte er eine warme Hand unter seinem Hemd, die ihn sanft gegen den Bottich schob, und Cyrus erging es nicht anders.
Sie sprach fast unhörbar und doch unwiderstehlich: „Bitte vertragt Euch. Ich habe eine bessere Verwendung für Eure Kräfte.“ Er spürte ihren Atem an seinem Ohr und sein Puls raste.
„Die Laube hinter dem Speicher“, keuchte Cyrus.
Hand in Hand verschwanden die drei in der Nacht.
* * *
Liberna Radina
Die Frauen musterten sich abschätzend. Eine Magd trug aufgeschnittenen Speck, Käse und Weißbrot mit frischen Tomaten auf. Als sie sich zurückgezogen hatte, brach Liberna das Schweigen: „Was schwebt Euch vor?“
„Frau Radina, ich hätte mehrere Anliegen. Oder eher Vorschläge, wenn Ihr erlaubt.“
Ich muss auf der Hut sein, dachte die Gutsherrin. Ihr Auftreten verriet mehr Erfahrung, als ihre Jugend vermuten ließ. Vor Jahren hatte ein Händler aus Hesgard versucht, sie mit einer hinterhältigen Vertragsklausel um den Ertrag einer ganzen Ernte zu bringen. Die Knechte hatten ihm handfest beigebracht, dass man auf Castelgionda keinen Amtmann brauchte, um die Rechte der Madrona zu wahren und der Schurke hatte sich nie wieder blicken lassen.
„Lasst hören.“
„Ich möchte mich hier niederlassen und ein Handelsgeschäft aufbauen. Wenn ich mich auf Wein und Olivenöl spezialisiere, kann ich Euch bessere Preise machen als Eure aktuellen Partner. Falls ich mit Eurer Unterstützung noch andere Gehöfte unter Vertrag bekomme, wird es für alle einträglich.“
„Ich muss Euch warnen, mein Kind“, erwiderte Liberna. „Ihr seid nicht die Erste, die hier ein Geschäft aufziehen möchte. Die Menschen der Chantas tun sich mit dem Weinbau leichter, als mit Handel und Geld.“
„Trifft sich gut“, lachte die Händlerin. „Ich stamme nicht von hier und ich habe nichts gegen Geld. Ich möchte einen Schuppen mieten, wo ich ein Fuhrwerk und ein paar Waren unterstellen kann.“
Liberna wurde misstrauisch. Warum hier? Die nächste größere Straße ist etliche Wegstunden entfernt. Der Ort taugt nicht für ein Fuhrgeschäft.
„Ich werde einen besseren Stützpunkt brauchen, weiter unten und näher an der Hauptstraße“, machte die blonde Frau einen Rückzieher – und nahm damit Libernas Einwand vorweg. „Es ist nur so, dass mir die Gegend hier zusagt – und Eure Gastfreundschaft“, setzte sie leiser nach, und Liberna glaubte, ein flüchtiges Erröten zu erkennen.
„Ich habe einen Schuppen und ein Zimmer, wenn Ihr wollt. Über den Preis werden wir uns einigen.“ Sie bot ihre Rechte und die Jüngere schlug ein. „Willkommen auf Castelgionda. Eines müsst Ihr noch wissen: Es gibt hier ein paar Schmuggler. Harmlose kleine Fische, solange Ihr ihnen nicht in die Quere kommt. Haltet Euch einfach von Ihnen fern.“
„Danke, ich werde es beherzigen.“ Die Händlerin zögerte. „Der Turm am Hügel, gehört der zu Eurem Anwesen?“
„Ja, aber er ist komplett verfallen. Soll einem Zauberer gehört haben. Jetzt hat niemand mehr Verwendung dafür. Was ist damit?“
„Verkauft Ihr das Land? Die Aussicht von dort oben ist herrlich.“
„Verkauft wird hier gar nichts“, antwortete Liberna. „Das ist seit Generationen so. Was haltet Ihr von einem Pachtvertrag für hundertundeinen Sonnenlauf. Dort wächst sowieso nicht viel.“
„Ich danke Euch für Eure Großzügigkeit Frau Radina.“
„Sag Liberna zu mir“, bot die Ältere an. „Das ist einfacher.“
„Danke, Liberna. Ich bin Raffaella.“ Die ungleichen Frauen umarmten sich steif.
Die Händlerin war schon an der Tür, als Liberna sie zurückwinkte. „Darf ich Dich mit einer Bitte behelligen, die Dir vielleicht ungehörig vorkommt?“
Raffaella sah sie abwartend an.
„Mein Sohn, Tonio, er ist, also er hat noch nie …, na Ihr – Du … Du verstehst schon.“
„Nein.“
Liberna musste wohl oder übel deutlicher werden. „Vielleicht könntest Du ihm …?“
Wieder