Eternumity. Stephan Schöneberg
Familie Opfer eines Verkehrsunfalls geworden ist. Die Bremsen eines Zuges versagten, nachdem bei einem Sturm ein größerer Baum auf die Schienen gefallen war. Ein Zug kann nicht ausweichen und nachdem er die Schienen verlassen hatte, verlor er letztendlich seine Richtung. Er geriet ins Schlingern und ein Personenabteil krachte mehr oder weniger ungebremst gegen einen massiven Stahlbrückenpfeiler. Dabei kamen viele Menschen ums Leben. Zum Glück für die Beteiligten war es wohl so, dass sie nicht viel gespürt haben. Bei einer Geschwindigkeit von ungefähr hundertfünfzig km/h ungebremst vor etwas Massives zu knallen, lässt einem nicht wirklich viele Überlebenschancen.
„Wie es wohl ist, wenn man irgendwo anders aufwacht und dann erfährt, dass man gerade sein erstes Leben verloren hat?“, sprach Max das aus, was wohl in ähnlicher Form auch Rudolf gerade dachte.
„Noch nicht einmal 30 Jahre alt, mit einem jungen Kind so aus dem Leben gerissen. Oh, Herr … manchmal fällt es schwer, an die Gerechtigkeit im Leben zu glauben“, bemerkte der Pastor.
„Woher kennst du sie? Oder anders gesagt, wie kommst du an ihre neue Adresse?“, fragte Max.
„Sie war gestern Nacht in der Kirche“, antwortete er wahrheitsgemäß.
„Ein Bot?!“, rief Max verwundert aus und unterbrach ihn unbeabsichtigt.
„Ja“, sagte Rudolf.
„Wow, DEN hätte ich gerne gesehen, was war es für ein Typ?“, fragte der Junge neugierig.
Rudolf sah ihn kurz verwundert an und begann dann zu sprechen:
„Ich habe ihr versprochen, mich heute Abend um 21:00 Uhr bei ihr zu melden. Es war spät in der Nacht, ich war müde, sie wollte mich nicht weiter stören und war ausgesprochen höflich. Sie hatte mir gesagt, dass sie gestorben ist, was ja logisch ist. Sogar ich weiß, dass man vorher gestorben sein muss, bevor man in der zweiten Welt lebt. Ich ahnte nur nicht, dass es erst vor so kurzer Zeit war. Sie schien so unglücklich.“
„Ich erinnere mich, dass ich von dem Unfall gehört habe“ sagte Max. „Eine tragische Verkettung von unglücklichen Umständen. Solche Unfälle passieren heute so selten, aber es zeigt auch, dass nicht alles hundertprozentig sicher ist. Alle Opfer leben nun in der zweiten Welt. Schade für die Kinder, sie werden so viel niemals erleben - aber zum Glück leben sie noch“.
„Tun sie das wirklich?“, dachte Rudolf.
„Sollen wir mal bei ihnen klingeln?“, fragte Max.
Er bekam keine Antwort.
„Rudi?!“, Max sprach ihn etwas lauter an.
„Oh, entschuldige Max, ich war in Gedanken. Nein, bitte nicht, ich habe ihr versprochen erst abends vorbei zu schauen. Vielleicht ist sie gar nicht da?“, antwortete der Pastor.
„Wo soll sie denn sein? Etwa shoppen im Supermarkt?“, Max versuchte mit einem kleinen Scherz die etwas beklemmend wirkende allgemeine Stimmung aufzuheitern.
„Ich habe nicht den leisesten Schimmer, Max. Ich fürchte ich kann mir das Leben in der zweiten Welt nicht mal ansatzweise vorstellen“, sagte er.
„Ich bin doch nur ein einfacher Pastor. Ich bin auf diese Begegnung überhaupt nicht vorbereitet“, Pastor Lammerz bekam langsam eine Ahnung davon, auf was er sich hier eingelassen hatte.
„Vielleicht ist ein Spezialist für die zweite Welt hier viel, viel besser geeignet“, fuhr er mit seinen Gedanken fort.
„Aber ... wenn sie den hätte haben wollen, dann hätte sie ihn doch auch aufsuchen können?“, schleuderte Max seine Gedanken in den Monolog des Pastors.
„Da hast du auch wieder Recht“, nahm Rudolf den Gedankengang auf.
„Hat Dein Vater nicht auch mit der zweiten Welt zu tun?“, fragte Rudolf.
„Ja, hat er, wie gefühlt ungefähr zwei Drittel aller lebenden Menschen. Aber er ist heute Nachmittag nicht zu Hause. „Er IST nämlich mit Mama shoppen. Tut mir leid Rudolf, da musst du wohl allein durch.“
„Vielleicht muss das so sein? Vielleicht ist es der Wille des Herrn, dass ich mich nun mehr mit dieser anderen Welt befasse?“
Max hob leicht die linke Augenbraue und sah seinen komischen Freund dabei mit halb zusammengekniffenen Augen an: „Wie sagst du immer so schön?“
Wie aus einem Mund sprachen sie beide es aus: „Die Wege des Herrn sind unergründlich.“
Sie ließen Vanessa, Vanessa sein und entschieden sich, erst einmal eine Runde Tennis zu spielen. Zum Glück war die Sonne rausgekommen und der Nieselregen verschwunden. Rudolf brauchte etwas Abstand. Beim Sport konnte er alle Probleme vergessen. Max war etwas praktischer veranlagt. Indem er mit Rudolf Tennis spielte, musste er erst einmal nicht sein Zimmer aufräumen. Nach zwei Stunden Sport sah die Welt schon wieder etwas freundlicher aus. Zu Hause angekommen, gab der Junge Rudolf noch letzte Anweisungen für das Gespräch mit Sylvia:
„OK, du bekommst von mir diesen netten kleinen Kommunikator mit. Papa hat ihn mir gerade erst geliehen. Bitte pass ein wenig darauf auf, es ist schwierig so einen zu bekommen. Der steuert die Kamera, die sich in der Nähe befindet, während du sprichst. Wenn keine in der Nähe ist, benutzt er seine eigene, die in dem Gerät eingebaut ist. Gleichzeitig siehst du deinen Gegenüber - oder das was sie dir zeigen möchte, denn natürlich braucht sie kein reales Bild. Du musst es ungefähr einen Meter vor dir aufstellen oder Du benutzt die Brille ...“, er öffnete die Unterseite und holte eine Brille mit einem etwas dickeren Rahmen heraus. „Wenn Du die aufsetzt, passiert alles vollautomatisch. Das ist fast so, als stünde sie direkt vor dir.
Rudolf sah das ungefähr 20 mal 15 Zentimeter große Gerät skeptisch aber auch interessiert an. Er setzte die Brille auf: „Ich sehe dadurch nur dich!“
Max lächelte: „Es wird hier...“, er drückte den roten Knopf an der Seite „...endgültig ein- oder ausgeschaltet. Du kannst es ab jetzt eingeschaltet lassen. Der Akku reicht locker für einige Tage, selbst wenn du mehrere Stunden täglich sprichst. Wenn du es in die Nähe eines induktiven Ladegerätes legst, oder du dich sogar in einer Ladezone befindest, dann funktioniert es sozusagen immer. Ihr habt so etwas in der Kirche, direkt neben dem Eingang. Aber du hast mit Sicherheit auch in der Nähe deines virtuellen Raumes so etwas“, Max zwinkerte mit dem linken Auge.
„Wenn du bei Familie Limbach anklopfen möchtest, sprichst du das Gerät einfach an, indem du 'Familie Limbach anrufen' sagst. Mich erreichst du, indem du 'Max anrufen' sagst“.
Rudolf lächelte und sagte laut und deutlich die Worte: „Max anrufen!“
Sofort vibrierte etwas in Max' Hosentasche. Er rollte lächelnd mit den Augen.
„Du, Rudi, bitte nimm es mir nicht übel - ich liebe es mit dir Tennis zu spielen, aber manchmal kommst du mir tatsächlich so vor, als wärst du ein paar hundert Jahre zu spät geboren.“
„Ich weiß“ erwiderte der Pastor „und ich bin dir sehr dankbar für deine Hilfe“.
„Hey, das ist doch selbstverständlich“, verabschiedete er seinen älteren Freund.
„Erzähl mir später mal wie es gelaufen ist“.
„Danke dir nochmals. Du hast mir sehr geholfen.“ Mit diesen Worten verabschiedete er sich von seinem jungen Freund.
Der Tag hielt keine großartigen Neuerungen und Überraschungen bereit. Hier in Altötting passierte nicht so viel Aufsehenerregendes. Wenn schon die Ankunft eines Bots etwas ist, worüber man sprechen würde, dann wusste man: Hier ist nicht der Ort, wo sich Fuchs und Hase gute Nacht sagen, hier ist vielmehr der Ort wo es nicht mal Füchse und Hasen gab, bildlich gesprochen. Füchse, Hasen, Rehe und vieles mehr, gab' es hier sehr wohl. Der richtige Ort für Menschen, die gerne ihre Ruhe haben und mit dem Rest der Welt am Liebsten nichts zu tun haben möchten. So kannte Rudolf seine Gemeinde und so lebte er mit ihnen zusammen. Die Gemeinde war klein, sehr klein, aber bestand auch aus vielen Handwerkern. Dies war ein großes Glück, denn sie sorgten dafür, dass das Gotteshaus einigermaßen in Schuss gehalten wurde.