Eternumity. Stephan Schöneberg

Eternumity - Stephan Schöneberg


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      Rudolfs Antwort geriet vielleicht ein wenig zu schnell und direkt. Nach einer kurzen Pause und einem leichten Kopfschütteln fuhr er mit dem Gespräch fort: „Jetzt muss ICH mich aber entschuldigen, ich wollte sie nicht beleidigen.“

      „Das haben sie nicht! Ehrlichkeit ist niemals beleidigend, dies ist nur die Lüge. Es ist … spät … vielleicht sollten wir an einer anderen für sie günstigeren Zeit weitersprechen?“

      „Das hätte ein Mensch so niemals gesagt … die Wortwahl ist eigentlich viel zu kompliziert.“, dachte Rudolf still.

      Der Kopf auf dem Monitor wiegte sich leicht zur Seite, scheinbar wartete sie auf eine Antwort ...

      „Aber ja, ... wenn sie möchten, gerne“, nach einem Moment fuhr er fort: „Sie haben Recht, es ist tatsächlich schon spät.“

      „Wann haben sie denn noch 'Termine' frei oder kann ich einfach zu den Sprechstunden vorbeischauen?“, die Stimme der Frau klang leicht amüsiert.

      „Die Kirche ...“, begann Rudolf, „ist jederzeit offen“ beendete die Frau den Satz mit einem abermals höflich-freundlichen Lächeln. „Aber ich bekomme nicht immer einen Bot, wann ich dies möchte.“

      „Oh ...“ entfuhr es Rudolf. Das stimmte natürlich. Bei der Menge an Bewohnern, die schon seit nunmehr unzähligen Generationen in der zweiten Welt gesammelt wurden, war es sicher nicht immer möglich, jederzeit sozusagen ein Taxi zu bekommen. Gerade zu den Stoßzeiten, also tagsüber, war es wohl umso schwieriger. Dies erklärte auch, warum sie nicht früher, zum Beispiel zu den Abendstunden hier erschienen war.

      „Sie müssen entschuldigen, ich benutze nicht gerne die virtuelle Schnittstelle, aber ich kann in ihrem Fall ja eine Ausnahme machen“, sagte Rudolf.

      „Wann haben SIE denn Zeit?“, fragte er.

      „Jederzeit! Zeit spielt für mich in diesem Leben keine große Rolle mehr, ich werde es einrichten. Schließlich möchte ich mich ja mit Ihnen unterhalten. Zudem habe ich keine großen Verpflichtungen mehr.“

      „Morgen um 21:00 Uhr?“, fragte der Pastor. „Dann ist die Abendmesse vorbei und ich habe danach nichts weiter mehr vor.“

      „Sicher, ich danke Ihnen, dass sie es so bald einrichten können.“

      „Nach wem muss ich suchen?“, fragte Rudolf.

      „Sylvia … Sylvia Limbach“, antwortete sie. „Da es sicher mehrere gibt: Ich bin vor anderthalb Monaten gestorben, unsere Familie hatte einen Unfall. Wir wohnen nun im Rosenweg Sieben, im virtuellen München. Bitte klopfen Sie vorher an. Sollte mein Sohn öffnen, sagen sie bitte, dass sie mit mir sprechen möchten. Er sollte nichts von unserem Gespräch erfahren“, antwortete Sylvia.

      „In Ordnung, gut“, bestätigte Rudolf. Er stutzte kurz bei dieser Antwort, beschloss aber sie zu ignorieren. Etwas musste er noch wissen: „Darf ich noch etwas fragen?“

      „Ja, sicher“

      „Wie kommen Sie auf mich?“

      „Das ist reiner Zufall, ich habe einfach den Zufallsgenerator nach einem christlichen Priester in Deutschland gefragt, der in einem Ort lebt, der nicht zu häufig von Bots besucht wird. Es war mir wichtig, sie persönlich anzusprechen und nicht den Umweg über das Kommunikationssystem zu gehen. Zudem mochte ich mit einem lebenden Menschen sprechen. Das Suchergebnis hat mir ihre Adresse genannt.“

      Rudolf atmete tief aus. „Ich hoffe, das ist für sie in Ordnung?“, sagte Sylvia direkt darauf. Man hörte deutlich die Unsicherheit in dieser Frage. „Ich weiß, ich gehöre nicht ihrer Gemeinde an.“

      Rudolf faltete die Hände und ballte sie, bis auf die beiden Zeigefinger zur Faust. Auf der Brust abstützend legte er sein Kinn auf die Fingerspitzen der Zeigefinger, um zusätzlich auch noch seinen Kopf abzustützen. Er tat dies oft, wenn er überlegte.

      „Die Wege des Herrn sind manchmal etwas sonderbar“, dachte er laut nach und ergänzte: „Vielleicht hätte ich nicht mit Ihnen geredet, wenn Sie mich einfach nur angeschrieben hätten. Sie haben den richtigen Weg gewählt.“

      „Schlafen Sie gut, Ich danke Ihnen vielmals“, sagte Sylvia.

      „Ich wünsche Ihnen auch eine gute ...“, Pastor Rudolf stockte.

      „Schon gut“, sagte Sylvia „in gewisser Weise ruhen wir auch.“ und nach einer länger wirkenden Pause als vielleicht beabsichtigt, fügte sie hinzu: „Wenn es auch nicht zu vergleichen ist.“

      Mit diesen Worten verließ das 'Frauwesen' die Kirche. Pastor Lammerz beendete seine tägliche Routine mit seinem verspäteten Nachtgebet und dem damit verbundenem Dialog zu Gott. Er musste danach doch noch ein wenig, oder vielleicht auch ein wenig mehr, an die Frau denken. Die ganze Begegnung, ebenso das Gespräch, war ungewöhnlich. Sein fester Tagesrhythmus und die dazugehörigen Rituale gaben ihm den Abstand zu seiner Tätigkeit. Diesen Abstand benötigte er gelegentlich, um wieder herunter zu kommen. Auch ein Priester braucht seine Auszeit - er kann nicht immer nur der Hirte sein. Aber diese Frau beschäftigte ihn mehr, als ihm recht war. Schließlich schlief er mitten in der Nacht doch ein.

      Sein folgender Tag war wie einer von vielen dieser Herbsttage in einem kleinen Dorf, mitten in dem Land, das einmal Deutschland hieß. Es nieselte, der Tag begann grau. Die Blätter der vielen Laubbäume im bayrischen Wald hatten schon längst ihre grüne Farbe verloren. Altötting war einer von vielen kleinen Orten mitten in Europa. Es gab' nichts Besonderes an und in diesem Dorf, bis auf die alte Kirche und ein noch älterer Rest einer Ruine eines uralten Klosters. Er befürchtete, dass seine ehemals viel prächtigere Kirche demnächst das gleiche Schicksal des bemitleidenswerten uralten Klosters teilen würde. Bis auf ein paar alte Steine, die Ruine eines Turms und einer alten Basaltmauer stand nichts mehr vom alten Kloster. Selbst der Name des Klosters wäre vergessen worden, wenn er nicht in alten Büchern seiner Gemeinde gestanden hätte und irgendwann einmal ein übereifriger Historiker diese Schriften für wertvoll genug deklariert hatte, dass sie abfotografiert und digital gespeichert wurden. Wie es wohl war, das Leben damals vor langer, langer Zeit, im sogenannten Mittelalter? Mittelalter, welch merkwürdiger Name für eine Zeit, in der es noch nichts gab, was heute das Leben ausmacht. Damals war die Kirche noch eine der Hauptsäulen des täglichen Lebens gewesen. Der Adel, die Kirche, das normale Volk, diese Dreiteilung war schon längst Vergangenheit.

      Er wusste, dass er schon ein wenig aus der Zeit gefallen ist. Rudolf verschloss sich den modernen Medien. Mit Computern, Bits und Bytes konnte er nicht viel anfangen. Rudi war ein Mann der Worte, der gesprochenen Worte noch lieber als der geschriebenen. Dafür liebte ihn seine kleine Gemeinde. Zumindest diejenigen die ihm noch zuhören wollten. Die Botschaft von Jesus Christus war für einige Menschen noch immer spannend und aktuell, obwohl das von ihr ehemals propagierte ewige Leben so gut wie überflüssig geworden ist. Nahezu jeder entschied sich später für das Leben nach dem Leben und nicht für das Leben nach dem Tod.

      Viele haben damit auch der traditionellen Kirche den Rücken zugekehrt, denn ein wesentliches Versprechen der Kirche war nun auch anscheinend anderweitig zu bekommen. Das ewige Leben gehörte nicht mehr der Kirche allein. Ein Leben nach den traditionellen Grundsätzen der Kirche war vielleicht nicht mehr nötig? Nicht alle besitzen die Disziplin eine Aufgabe durchzuführen, wenn es dafür keine Belohnung gibt. Warum soll man an Gott glauben, wenn man ihn gar nicht mehr benötigt, oder ihn sowieso niemals trifft? Aber … ist dies das Ziel? Ist nicht vielmehr der Weg das Ziel? Gut, dies kommt nicht von Jesus Christus, sondern von Konfuzius, so sagt man zumindest. Die christlichen Lebens- und Glaubensgrundsätze haben einen guten, lebensbejahenden Kern. Selbst wenn man nicht an ein höheres Wesen glaubt, so macht es Sinn, nach den alten Regeln und Vorsätzen zu leben.

      Auch andere Religionen haben so ihre Probleme. Es traf sie damals alle unvorbereitet. Durch die große Revolution wurden sie einfach vor vollendete Tatsachen gestellt. Scheinbar bewusst hat man nicht viele höherrangige Kirchenvertreter oder auch Vertreter anderer Religionen in den Plan eingeweiht. Hatte man Angst, vor den Reaktionen? Vielleicht war es auch einfach so, dass man ihr nicht vertraute. Die Kirche stand meist traditionell mit der Wissenschaft


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