Eternumity. Stephan Schöneberg
was steht heute auf dem Stundenplan, Chris?“
„Och, das Übliche … Mathe, Chemie, Physik, Interaktion, Logistik, Ethik, Robotik, Kommunikation. Halt nix Besonderes, bis auf Sport in den letzten beiden Stunden“
„Sport?“ fragte Jochen interessiert. Er wusste natürlich nur zu genau, dass Christian Sport liebte. Und das war auch nicht weiter verwunderlich. Alle Kinder lieben Sport; naja - die meisten Kinder. Für die virtuellen Kinder war dies allerdings eine besondere und andere Herausforderung.
Die … „Virtuellen“ … …
Irgendwann hatte sich schließlich dieser Begriff in den Köpfen der Menschen festgesetzt. Aber, es war nicht richtig, sie so zu nennen. Jochen hatte es immer abgelehnt, diesen Begriff zu verwenden - denn es wurde Ihnen natürlich bei Weitem nicht gerecht, zudem stimmte es nicht!
„Virtualität ist die Eigenschaft einer Sache, nicht in der Form zu existieren, in der sie zu existieren scheint, aber in ihrem Wesen oder ihrer Wirkung einer in dieser Form existierenden Sache zu gleichen.“ So lautete ursprünglich die gültige Erklärung für dieses Wort: Virtualität.
Nah dran - aber letztendlich doch so weit, weit weg.
„Paps, du weißt doch, wir spielen in 'mixed teams' gegeneinander Fußball, Klasse 9a gegen Klasse 9b“ erklang es aus dem Lautsprecher. „Die Gegner aus der B haben eine verdammt gute Virtuelle im Tor.“
Erstaunlich wie “locker“ Christian mit diesem Begriff umgehen konnte. Direkt und fast schon reflexartig kam Jochens Einwurf: „Ihr seid nicht virtuell!“
„Ja, ja … klar doch, ich weiß …“, kam die lächelnde Antwort, „ich bin betroffen - ich darf das!“
Jochen kannte die Klassen nur zu genau, er unterrichtete an derselben Schule, nicht in Christians Klasse, allerdings in der 9b. Er kannte den Torwart, oder besser die Torwartin Michaela. Er war sich nicht sicher, ob das Fußballspiel heute tatsächlich stattfinden würde. Aber das würde Christian noch früh genug erfahren. Außerdem durfte er darüber nichts sagen. Er war einer der Vertrauenslehrer an der Schule. In dieser Funktion hatte er kürzlich viel mit Michaela geredet. Gestern hatten sich die Ereignisse, zwar nicht unbedingt unerwartet, aber dann doch endgültig, zum Negativen verändert. Es war zu befürchten, dass dies passieren würde. Es wäre nur schön gewesen, wenn es noch ein paar Jahre gedauert hätte, oder sogar erst in ein paar Jahrzehnten passiert wäre.
Jochen betrat den Klassenraum zu seiner ersten Stunde, wie immer, gut fünfzehn Minuten bevor der Gong zum Stundenanfang ertönte. Der Gong war nur für die 'menschlichen' Kinder da. Auch dieser Begriff, menschlich, wurde möglichst vermieden, denn es sollten so wenig Unterschiede wie möglich zwischen den vielen Schülern gemacht werden. Ganz früher gab es den Begriff der Inklusion, also die Einbeziehung von behinderten MENSCHEN in die Gesellschaft. Vielleicht ist das, was Jochen als Lehrer tat, am ehesten mit einer erweiterten Inklusion zu erklären.
Geistig behinderte Kinder existierten so gut wie gar nicht mehr. Die Medizin hatte die letzten Jahrzehnte enorme Fortschritte gemacht. Es war frühzeitig erkennbar, ob ein Kind geistig gesund im Mutterleib heranwuchs, so dass so gut wie niemand sich mehr dazu entschied, solch ein Kind zu bekommen. Geburtsfehler traten ebenfalls kaum noch auf. So makaber es klang, aber der- oder besser diejenige die ein geistig behindertes Kind großzog, war ein echter Exot. Körperliche Behinderungen resultierten fast nur aus Unfällen.
Wenn ein Kind nach einem Unfall geistig behindert war, entschieden sie oder die Eltern sich meist dazu, zu sterben und damit auf einen Stand vor dem Unfall zurück zu fallen. Fast alle Kinder in der zweiten Welt waren daher auf Unfälle mit tödlichen Ausgängen zurück zu führen. Alle anderen nicht Erwachsenen starben durch Krankheiten. Vielleicht konnte man den Tod besiegen, aber sterben musste jeder Mensch irgendwann trotzdem noch. Manche traf es halt früher - leider.
So kam es, dass der Begriff Inklusion nun eher auf gemeinschaftliche Schulen zwischen der ersten und zweiten Welt angewandt wurde. So eine Schule wie die Albert-Einstein-Schule.
Früher dachte die Menschheit wohl, die Computer würden ihre eigene Intelligenz entwickeln. Künstliche Intelligenz wurde es genannt. Das Thema hat die Menschen schon immer fasziniert. Sie gaben sich nicht damit zufrieden, die einzige Art im Universum zu sein, die einen höheren Verstand besitzt. Zudem war und ist es so, dass ein biologischer Mensch nicht im großen Kollektiv denken kann. Es fällt ihm schwer, über viele Generationen hinweg zu denken. Er denkt vielleicht noch an die eigenen Kinder und deren Kinder ... Aber schon über diese Generation hinweg sinkt seine emotionale Bindung. Biologische Menschen sind egoistisch.
Nun, vielleicht gibt es noch mehr und anderes Leben da draußen; eine weitere, andere Intelligenz? Aber bis heute ist die große Alieninvasion ausgeblieben. Man darf vielleicht annehmen, dass dort draußen vielleicht etwas ist. Aber den Weg zu uns hat es tatsächlich noch nicht gefunden. So spielt sich alles Außerirdische nur im Geist, in der grenzenlosen Fantasie, ab. Inzwischen halt nicht mehr in der biologisch-menschlichen Fantasie allein.
Bekannterweise soll sich der menschliche Verstand durch die Evolution entwickelt haben: „Der Mensch stammt vom Affen ab!“
Und in der Vergangenheit hat er seine Vorfahren - jegliche Affenarten - so gut wie ausgerottet. Es konnte niemals sicher nachgewiesen werden, dass es tatsächlich so ist. Die Suche nach dem sogenannten „Missing Link“ - dem Bindeglied des Affen zum Menschen - ist erfolglos geblieben. Leider kann nicht gesagt werden, wann der erste Mensch auf der Welt sich über die Tierwelt emporgeschwungen hat und die Erde unterjocht hat - wie in einem alten, sehr alten Buch mit dem Namen 'Bibel' gesagt wurde: „Gehet hin und machet euch die Erde untertan“.
Dies wurde in Tausenden von Jahren auch in stetig steigendem Maße praktisch angewandt. So lange, bis die eigene Heimatwelt, die Erde, schließlich fast zerstört war. Was Kriege und Waffen nicht geschafft haben, hat schließlich die steigende Population fast erledigt. Aus einer Milliarde wurden zehn Milliarden und noch viel mehr - Tendenz steigend, … damals. Das Problem ist noch immer nicht vollständig im Griff. Aber das ist auch nicht möglich. Der Mensch kann niemals perfekt sein, so funktioniert Evolution nicht. Wenn keine Mutation mehr nötig wäre, dann würde die Evolution stoppen. Dieses Szenario ist nicht realistisch.
Lange Zeit, vielleicht immer noch, dachten alle, die künstliche Intelligenz würde mit den Menschen ähnlich verfahren. Sofern es so etwas wie künstliche Intelligenz überhaupt gab oder gibt. Sie würde als evolutionäre Weiterentwicklung des fleischlichen Menschen die Führung auf der Welt übernehmen und schließlich den Menschen ausrotten. Unzählige Filme, Bücher, wissenschaftliche Arbeiten, Berichte und Interviews mit damaligen hochrangigen Politikern und Wissenschaftlern behandeln dieses Thema. Die Gefahr war vielleicht gegeben und die Voraussetzungen waren vorhanden, oder in der Entwicklung?
Jedoch, es entwickelte sich bekanntermaßen ein wenig anders. Zudem wäre ein solches Verhalten einer künstlichen Intelligenz irgendwie nicht rational gewesen.
Der Gong ertönte, die Kinder strömten in die Klassenräume. Jochen unterrichtete heute - in der 2. Schulstunde - die Klasse 4b, bestehend aus 25 Kindern. Elf Jungen und Zwölf Mädchen waren in dieser Klasse. Zwei Kindern war es gleich, ob sie Mädchen oder Jungen waren. Acht Kinder haben sich bisher entschieden, ihr ursprüngliches Geschlecht bei zu behalten. Das war nicht weiter schlimm und durchaus positiv. Die physikalischen Gegebenheiten zur Entwicklung zum Mann oder Frau mögen vielleicht nicht mehr gegeben sein, aber es war und ist auch immer eine Haltung des Geistes ob eine Person sich wie eine Frau, oder wie ein Mann fühlt. Die individuelle Einstellung einer Person war schon immer ein hohes Gut der Menschheit - daran hatte sich nichts geändert. Nein es hatte sich eher durch die neuen Spielregeln, die mit der zweiten Welt dazu kamen, noch verstärkt.
Die Sprache war Englisch. Schade, dass fast alle anderen Sprachen ausgestorben sind. Die wenigen, die noch gesprochen wurden, existierten nur noch in Arbeitsgruppen zur geistigen Flexibilität. Im Laufe der Zeit zeigte sich mehr und mehr, dass die unterschiedlichen Sprachen und Ausdrucksformen die damalige und auch heutige Menschheit stark in ihrer Kommunikationsfähigkeit behinderten. So hatten sich einige Weltsprachen herausgebildet. In der früheren zivilisierten Geschichte der Menschheit war dies Latein,