Homo sapiens movere ~ geopfert. R. R. Alval
Dann stünde ein neues Ritual zur Bannung uralter, böser Seelen an, was ich trotz meiner Abneigung diesem Mann zu begegnen, nicht versäumen konnte.
Hatte ich erwähnt, dass ich zu Alans Rudel gehöre?
Als Mensch!
Mit Zusatz.
Nun ja, es war nicht schwer zu erraten, nachdem ich schon sagte, dass ich seine Alpha war. Das hieß noch lange nicht, dass ich es akzeptierte. Er hatte mich damit überrumpelt. Ganz so, wie es seine Art war. Tja, ohne mich. Ich war keine Frau, die sich Vorschriften machen ließ. Allerdings musste ich mich an die eine oder andere Regel des Rudels halten, um weniger erfreulichen Konsequenzen aus dem Weg zu gehen. Andere Anweisungen meines Alphas – Gott, das klang so absurd – ignorierte ich mit ausgestrecktem Mittelfinger, ähm… mit einem Lächeln. Außerdem hatte ich mit ihm noch ein Hühnchen zu rupfen … beziehungsweise einen ausgewachsenen Strauß.
Humphrey, bei dem ich die letzten Wochen untergetaucht war, hatte es geschafft, meine ‚Amnesie’ aufzulösen. Was er mir dabei enthüllt hatte, war alles andere als gut für den unfehlbaren Alan.
Oder für seinen Freund Roman.
Jedes Mal wenn ich daran dachte, fühlte ich einen Anflug von Bitterkeit in meinem Mund, der sich nach unten ausbreitete und als Stein in meinem Magen liegen blieb.
Ich hatte diesem, diesem… Mann… vertraut!
Ich faltete die Zeitung zusammen und legte sie auf den Altpapierstapel, auf dem unter anderem auch vier ungeöffnete Briefe von Alan ihr Dasein fristeten.
Nachdem was ich inzwischen wusste, sah ich keinerlei Anlass diese Briefe zu öffnen.
Die Zeitungen könnte ich aufheben. Jeden Artikel, der sich auf mich bezog, akribisch ausschneiden und an die Wand kleben oder penibel in einem Hefter sammeln. Ich war bloß nicht wild darauf, dass jemand die logischen Schlüsse daraus zog, sobald er diese kleine, fröhliche Sammlung entdeckte.
Gut… Gäste hatte ich in letzter Zeit… äh… weniger.
Aber man konnte nie wissen.
Ich traute Alan einiges zu, obwohl die Idee reichlich grotesk war. Trotzdem: Solange ich nichts aufbewahrte, egal ob Zeitungsartikel oder Wertsachen, konnte mir auch niemand etwas nachweisen.
Wenn ich etwas in meinem Leben gelernt hatte, dann, dass movere automatisch als erstes in den Kreis der Verdächtigen aufgenommen wurden. Und auch als zweites.
Und zwar so ziemlich alle, die a die möglichen Fähigkeiten besaßen, b eingetragen waren – also den Zusatz im Pass nachweisen konnten und c in der Nähe wohnten. Oh, fast vergessen: d, die einem einfach nicht in den Kram passten. Ich selbst hatte das Spielchen schon ein paar Mal hinter mir.
Jedoch nie in einer Sache, derer ich tatsächlich schuldig gewesen wäre.
Ja, ich war ein eingetragener movere. Wie alle movere in den letzten 30 Jahren. Nur so bekam man den Zusatz im Pass.
Davor hatte man es nicht publik machen müssen. Jetzt allerdings war es Vorschrift, sich als das kenntlich zu machen, was man war. Von mir aus. Diese Kennzeichnung sagte lediglich, dass ich mich genetisch von anderen Menschen unterschied, indem ich in die Schublade der Telekinese gesteckt worden war.
Im weitesten Sinne waren alle movere Telekinetiker, da sie Dinge beeinflussten. Sei es durch Bewegung oder Manipulation. Ich selbst kannte vier, die allesamt in derselben Schublade steckten wie ich. Telekinese war ein Wort, was für so ziemlich alle möglichen Fähigkeiten stand, für die es keinen Namen gab; die man dennoch irgendwie katalogisieren musste. Claude, ein movere, mit dem ich in die Schule gegangen war, hatte die Gabe das Feuer zu beherrschen. Nicht nur das: Er konnte es durch seinen Willen entfachen. Auf seinen bloßen Händen! Im Prinzip tat auch er nichts anderes als Teilchen zu beeinflussen. Er fiel in den Bereich der Pyrokinetik.
Sascha, ein anderer movere, konnte das Gleiche; allerdings mit Wasser. Da es dafür keinen Namen gab… Nun, er war einer der erwähnten vier, die mit mir in der Schublade der Telekinese hofierten.
Dabei war oftmals nur eine von mehreren Fähigkeiten angegeben. Bisher hatte die Regierung sich für kein Gesetz entschieden, das vorschrieb, dass man alle Fähigkeiten anzugeben hatte.
Zumindest nicht einstimmig.
Welch ein Glück!
Ich persönlich war dagegen, dass präzise Angaben gemacht wurden. Nicht, weil ich selbst ein movere war, sondern weil ich es unnötig hielt. Wie unter allen Menschen, egal ob mit oder ohne Zusatz, gab es gute, weniger gute und echt durchgeknallte Typen. Bei einem Verbrechen, egal welcher Art, war es auch jetzt schon so, dass als erstes immer die movere verdächtigt wurden. Selbst fast 60 Jahre nach den großen Revolutionen. Wenn dann auch noch aufgeschrieben werden würde, was welcher movere anstellen könnte, hätten wir bald ein drittes Salem.
Jeder movere war zwangsläufig gefährlich; wie jeder andere Mensch auch.
Nehmen wir Claude: Natürlich konnte er ein Feuer legen und – wenn er das wollte – jemandem aus reiner Boshaftigkeit die Haare versengen. Oder denjenigen selbst in Brand stecken. Aber war er dadurch gefährlicher als ein normaler Mensch mit Brandbeschleuniger und Feuerzeug oder gar mit Pistole?
Wohl kaum.
Man sollte die Relationen im Auge behalten.
Das Potential zur Gewalt war überall vorhanden. Egal bei welcher Rasse. Meist jedoch waren die am aggressivsten, die sich bedroht fühlten. Die der Meinung waren, ihre Existenz vor Gefahren retten zu müssen oder einen um sich greifenden Rachefeldzug starteten. Die Geschichte hatte uns das mehr als einmal bewiesen.
Was würde also passieren, wenn wir movere uns bedroht fühlten?
Wären wir so zurückhaltend wie unsere Vorfahren zur Zeit der zwei großen Revolutionen, aus Angst, dass man uns für Monster hielt?
Ich hatte erhebliche Zweifel daran.
Eine Tasse Tee in der Hand ging ich aus der Küche. Dabei warf ich einen kurzen Blick die Treppe hinauf, auf deren Absatz ein Engel milde lächelte. Ich hatte die knapp einen Meter hohe Statue meiner Freundin Laura schenken wollen.
Leider hat Laura das letzte Weihnachten nicht mehr erlebt.
Mit einem leichten Kloß im Hals schlurfte ich in die Wohnstube, in der ich mich auf die Couch plumpsen ließ – nachdem ich den Tee abgestellt hatte – um meiner momentanen Lieblingsbeschäftigung nachzugehen: Dem Fernsehen.
Wie sollte ich bloß den Sommer überstehen, ohne eine einzige Grillparty mit meiner Laura?
Aber hey, noch war nicht Sommer und alles war besser als schon jetzt daran zu denken.
Draußen dämmerte es bereits. Obwohl es heute Morgen sonnig ausgesehen hatte, war der Tag mit Wolken verhangen gewesen, die letztendlich doch ihre Schleusen öffneten. Der Regen prasselte so laut ans Fenster, dass er sogar den Fernseher übertönte. Sollte mir recht sein... ich saß im Trockenen. Während ich an meiner Teetasse nippte, überlegte ich, seit wann ich eigentlich abends mit Tee da saß anstatt mit Kaffee.
Heilige Waldfeegroßmutter!
Mutierte ich zur feinen Lady oder schlimmer – zur alternden Dame vom Land? Fehlte nur noch, dass ich mir einen Dackel zulegte und Strickzeug.
Ich hasste stricken!
Argwöhnisch schaute ich in die Tasse und entschied mich, endlich wieder die zu werden, die ich gewesen war.
Dazu gehörte auch Kaffee; eine ganze Menge davon.
Beinah hätte mich der Schock einen Meter in die Luft springen lassen, als mitten in meinem Vorhaben in die Küche zu gehen, Bingham Senior in meiner Wohnstube auftauchte.
Schluckend und meine Stirn runzelnd betrachtete ich den jungen Mann, der älter war als ich, meine Brüder und meine Eltern zusammenaddiert. Sein Blick war eisig, sein Lächeln nicht echt. Verflixt, warum ich?
Konnte