Mein ist die Rache. Hannes Wildecker
erahnen, denn die Frau hat sich inzwischen in ihr Schicksal ergeben. „Lieber Gott, gib mir Kraft!“, betet sie zwischen den groben Stößen der Peiniger, die sie, einer nach dem anderen, besteigen. „Verzeih Ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“
Drei Tage nach diesem Vorfall findet man eine junge Frau auf den Gleisen der Bahnlinie von Losheim nach Merzig, am Ortsende von Losheim, zerschmettert von einem ICE, dessen Führer nach dem Aufschlag psychologische Hilfe in Anspruch nehmen muss. Der Fall wird nach Abschluss der Ermittlungen zu den Akten gelegt. Suizid, kein Fremdverschulden erkennbar, heißt es im Abschlussbericht der Saarbrücker Kriminalpolizei. Es ist keine Seltenheit, dass der Freitod auf den Schienen der Bundesbahn gesucht wird. Es ist ein schneller Tod, der aber dem Leichenbestatter alle Mühen abverlangt, die Leichenteile fein säuberlich aufzulesen und sie mit den Plastiktüten im Blechsarg zu verstauen.
Auch die bis zur Unkenntlichkeit deformierte Leiche der jungen Frau verlangt den Dienern des Todes diese Arbeit ab. Wohin sie die Rechnung dafür senden, das wissen sie inzwischen. Celine Raphael hieß das junge Ding, war gerade mal zwanzig Jahre alt und wollte Nonne werden. Die Ermittlungen bei den Angehörigen ergeben, dass Celine Raphael sich zu Gott berufen fühlte und ihre Entscheidung der Familie bereits mitgeteilt hatte.
Der Grund für den plötzlichen Freitod der jungen angehenden Ordensfrau beschert ihrem Heimatort allen Grund für Spekulationen. Ein Abschiedsbrief existiert nicht. Jedenfalls hat niemand, weder die Polizei, noch die Angehörigen, so wurde es jedenfalls behauptet, einen solchen gefunden oder gesehen.
So schließt sich die Akte über Celine Raphael, um vorübergehend um für ganze acht Jahre Ruhe in den Kellern der Gerichtsbarkeit zu finden.
1.Kapitel
„Auf, Leute, es wird langsam Zeit! Wir haben uns doch einiges vorgenommen!“ Frank Clemens versucht, seine Leute aufmuntern, denn gemeinsam werden sie einen etwa fünfstündigen Marsch vor sich haben. Seine Leute, das sind die Mitarbeiter der Firma Clemens & Sohn aus Morbach, Elektroinstallation und Verkauf von Leuchtkörpern aller Art. Sie sind allesamt Wanderfreunde und der Saar-Hunsrück-Steig mitten in ihrer Heimat lockt immer wieder zu neuen Wanderaktionen. Von den insgesamt elf Etappen haben sie in diesem Jahr bereits drei hinter sich gebracht, nicht während der Arbeitszeit, nein da ist nichts zu machen mit Frank Clemens, da wird gearbeitet, der Betrieb muss laufen. Aber an den Wochenenden, da trifft man sich, nach Absprache versteht sich, und schnallt die Wanderschuhe an. Mal wird die Gruppe, die heute ausschließlich aus Männern besteht, von ihren Partnerinnen oder Partnern begleitet, doch den Frauen sind solche, schon etwas härtere Touren, zu anstrengend.
„Der Steig bietet auch leichte Wandermöglichkeiten und man muss ja auch nicht so draufhalten“, ist deren Kommentar, wenn mal wieder eine der größeren Abschnitte auf dem Programm steht.
Heute hat man sich die so genannte 6. Etappe ausgewählt, die von Nonnweiler nach Börfink. Dort nämlich werden die Wanderer am Nachmittag von dem Kleinbus der Firma Clemens abgeholt. Franks Ehefrau Lydia hat sich als Fahrerin zu diesem Liebesdienst bereit erklärt und die Wanderer auch nach Nonnweiler gebracht. Man wird anschließend gemeinsam noch in einer Gaststätte einkehren, etwas essen und trinken und dann den Heimweg antreten.
Frank Clemens hat seinen rechten Fuß auf einer steinernen Blumenbank vor der Kurhalle in Nonnweiler abgestellt und bindet sich den Schnürsenkel seines Wanderschuhs. Die Nordic-Walking-Stöcke stehen neben ihm, an die Bank gelehnt, bereit, ihn die nächsten Stunden zu unterstützen.
Clemens sieht seine Mitarbeiter von der Seite an.
„Fertig?“
„Fertig!“ antworten die Fünf wie aus einem Munde.
„An uns liegt es nicht, wir sind fertig“, lässt sich ein Mann mit Hornbrille vernehmen.
„Ja, auf jede Kleinigkeit achten, wie in der Buchhaltung. Ich bin also der Hemmschuh“, zieht sich Clemens auch diesen Schuh an. „Alles klar! Also auf!“
Spricht` s, schnappt sich seine Stöcke und setzt sich an die Spitze der Gruppe, um sogleich das Tempo vorzulegen. „Mal sehen, wie die Buchhaltung da mithalten kann“, denkt er schadenfroh. Und er behält Recht. Nach einigen hundert Metern hat sich die Gruppe schon auseinandergezogen, obwohl es bergab geht, in Richtung Talsperre. Der Buchhalter der Firma, Guido Klöppel, Frank Clemens hat ihn beim Zurückschauen gleich erblickt, hält sich tapfer an der Spitze der Verfolger.
„Ich werde auf dem Dollbergkamm auf die anderen warten“, sagt sich Clemens. Er ist nicht der Typ, der mal langsam, mal schnell gehen kann. Er braucht den Rhythmus, den gleichmäßigen Schritt. Auf dem Dollbergkamm, auf der Höhe von Neuhütten, da wird er auf die anderen warten.
Die Treppen zum Seerundweg bedeuten ebenfalls keinerlei Hindernis, es geht vorbei an einem Fischweiher, dann folgt der Aufstieg zum Dollberg. Clemens schaut zurück und stellt mit Genugtuung fest, dass er die Gruppe ein gutes Stück hinter sich gelassen hat. Seinen Buchhalter scheint es ans Ende der Wandergruppe verschlagen zu haben. Clemens lächelt. „Große Töne spucken, aber nichts drauf! Aber darauf kommt es ja nicht an. Klöppel ist ein guter Buchhalter“, denkt er sich. „Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn tun sollte.“
Clemens vernimmt das Plätschern einer Quelle und zieht die Juli-Luft des frühen Tages tief in die Lunge. Frisch und nach Wald schmeckend ist der Sauerstoff im Hunsrück besonders in dieser Jahreszeit und Clemens denkt schon daran, stehen zu bleiben und einen Schluck des frischen Wassers zu sich zu nehmen. Doch er besinnt sich und marschiert, ohne seinen Trott zu vernachlässigen weiter, vorbei an der Köhlerhütte, einem Relikt aus vergangener Zeit.
Dann liegt er vor ihm, der „Tirolerstein“, noch rund zweihundert Meter. Der Stein ist eigentlich ein Wegekreuz mit einer dubiosen Vergangenheit, die Clemens aber nicht kennt. Er interessiert sich nicht allzu sehr für Geschichte, auch nicht für die seiner Heimat. Dafür hat er keine Zeit. Seine Geschäfte beanspruchen ihn von morgens bis abends. Dort, an dem „Tirolerstein“, wird er auf die anderen warten. Von hier oben hat man einen guten Ausblick auf die Bergkämme des Hunsrücks. „Dort werden wir Rast machen und eine Erfrischung zu uns nehmen“, denkt Clemens.
Seine Schritte werden plötzlich langsamer, sein eingeschlagener Trott scheint ihm auf einmal egal.
„Da ist doch etwas bei dem Stein“, denkt er. Im näher kommen sieht er, dass er Recht hat. Mit dem Rücken zu ihm gewandt, sitzt eine Person auf dem Sockel des Wegekreuzes, den Rücken gegen das hölzerne Kreuz gelehnt, den Kopf leicht nach vorne gebeugt. Ein Betrunkener? Jemand, dem es schlecht geworden ist, der vielleicht einen Herzinfarkt erlitten hat? Oder ist es eine Falle? Ein geplanter Überfall? Von solchen Dingen hört man doch in letzter Zeit immer öfters. Da legt sich einer auf den Boden und wenn man sich um ihn kümmern will, dann sind seine Kumpane da und…! Clemens will nicht weiter darüber nachdenken. Clemens bleibt stehen und sieht nach hinten. Seine Mitarbeiter sind nur noch etwa hundert Meter entfernt. Nein, da kann nichts mehr passieren! Von wegen Überfall, oder so. Er wendet seinen Blick wieder zu dem Kreuz und der darunter hockenden Person und nähert sich dem mysteriösen Ort.
Er ist nun fast auf Höhe des Steins. Clemens erschrickt.
„Scheiße, der ist ja gefesselt!“, entfährt es ihm, als er sieht, dass beide Arme der Person hinter den Körper gestreckt sind und hinter dem Kreuz zusammengebunden sind.
Clemens schaut sich nach seinen Begleitern um. Die sind noch etwa fünfzig Meter hinter ihm und unterhalten sich fröhlich. „Kein Wunder, wenn die Kondition darunter leidet! Marschieren und sprechen!“, kommt es ihm in den Sinn und er sieht ein, dass diese Gedanken gerade jetzt total unsinnig sind.
Frank Clemens tritt langsam, als könne die Person, der er jetzt schon ansieht, dass es sich um einen Mann handelt, ihm etwas antun, auf diese zu und geht um sie herum, so dass er frontal vor ihr steht.
Clemens schluckt. Er wird leichenblass. „Das kann nicht sein!“, denkt er. „Das ist unmöglich!“ Er kann keinen klaren Gedanken fassen und schaut wie gebannt auf dem Mann, der da vor ihm auf dem Sockel des „Tirolersteins“ sitzt, an den