Oliver Hell - Feuervogel. Michael Wagner J.
einzige Hoffnung für die Tiere waren sie. Die Polizei würde sie nicht laufen lassen, niemals. Einige Besitzer hatten es vorgezogen, ihre Tiere von eigener Hand zu töten, bevor sie ohne ihre Liebe auf einem kalten Tisch in einem namenlosen Arztzimmer ihren letzten Atemzug aushauchten. So konnte man die Art und Weise bestimmen und von dem Tier Abschied nehmen, denn auch das verwehrte die Polizei den Besitzern oft genug. Sie nahmen ihnen die Hunde weg und selbst die toten Tiere verschwanden im nirgendwo.
Nannte man so etwas einen bedachtsamen Umgang mit den Geschöpfen Gottes?
Die Tierschützer hatten sich ihre eigene Antwort auf diese Frage gegeben.
In dieser Nacht fuhren zwei Hunde in ihre neue Zukunft.
*
Neumünster
Sonntag, 11.8.2013
Abgesehen von dem Gezwitscher einiger Vögel, die schon um halb vier Uhr den Tag gebührend begrüßten, hörten Oliver Hell und Franziska Leck in dieser Nacht vielleicht noch das Huschen der Kaninchen unter ihrem Wohnmobil, aber auch nur, wenn sie genau hingehört haben.
Hell war vor ihr wach. Er blieb einfach neben ihr liegen, um sie noch eine Weile im Schlaf zu beobachten. Die Jalousien im hinteren Teil des Wohnmobils waren heruntergezogen, deshalb fiel nur das Licht aus dem vorderen Teil, wo sie die Jalousien nicht heruntergezogen hatten, sanft auf ihre Züge. Hell realisierte gar nicht, wie sich seine Mundwinkel nach oben zogen, er war einfach machtlos.
Als sie ihren Kopf ein wenig hob, erschrak er fast.
»Guten Morgen«, sagte er überrascht.
»Guten Morgen, Schatz«, murmelte sie schlaftrunken, »Ist der Kaffee schon fertig?« »Nein, noch nicht. Aber ich könnte aufstehen, um …«, sagte er, doch er erkannte, dass sie wieder eingeschlafen zu sein schien.
Leise robbte er nach vorne, stieg die drei in die Ecke gebauten Stufen herunter, die zum hochgelegten Bett führten, und öffnete die Tür zum Toilettenraum. Er staunte immer wieder, wie wenig Platz man doch benötigte, um alles auf einem Quadratmeter unterzubringen, Waschbecken, Toilette und Dusche. Er setzte sich hin und pinkelte. Als er fertig war und die Spülung betätigt hatte, schaute er in den Spiegel. Erst hier fiel ihm auf: Er lächelte noch immer.
Hell schüttelte den Kopf, öffnete leise die Toilettentür, versorgte die Kaffeemaschine mit Filter, Wasser und Kaffeepulver. Dann ließ er die Außenwelt in das Wohnmobil, das sie heute noch über die Grenze tragen sollte.
Die Tür schwang auf, sofort spürte er die würzige Wärme des Sommermorgens, die ihm entgegenströmte. Hell ließ die Augenlider sinken und atmete tief durch. Die anderen Wohnmobile lagen noch ebenso still da. Als einziges Geräusch drang das Schnurcheln der Kaffeemaschine an sein Ohr, die das Wasser ansaugte und auf das Kaffeemehl pumpte. Aber es störte ihn nicht, ganz im Gegenteil, dieses Geräusch versprach einen starken Kaffee zum Frühstück. Fehlten nur noch die frischen Brötchen.
Hast du einen Bäcker gesehen auf der Hinfahrt, fragte er sich.
Aber ein Blick auf die noch gut gefüllte Brotkiste verriet ihm, dass es noch mehr als genug Brot gab. Entwarnung.
Er wurde erst von einem leisen Knarzen aus seinen Träumen geholt, die mittlerweile verstummte Kaffeemaschine hatte er überhört. Das Knarzen deutete darauf hin, dass Franziska die kleinen Stufen hinunterschritt.
»Hmh, Kaffee, du bist ein Schatz, Oliver«, sagte sie und schlang ihre Arme um seinen Hals.
»Soll ich draußen für uns decken?«
»Hmh, gerne«, antwortete sie noch verschlafen. Hell verspürte plötzlich einen Riesenhunger, sputete sich, um die Möbel draußen wieder aufzustellen. Der Tisch war schnell gedeckt, der Kaffee in die Thermoskanne gefüllt. Hell hielt schon die erste Tasse in seiner Hand, als Franziska aus dem WoMo trat. Sofort begannen sie mit der Planung für diesen Tag. Sie musste allerdings erst eine Tasse Kaffee trinken, bevor sie Hells Gedanken wirklich folgen konnte.
»Wollen wir auf der Autobahn bleiben oder fahren wir doch lieber rüber an den Strand?«
»Rüber an den Strand? Ist schon ein Stück bis dahin.«
»Kennst du dich dort an der nördlichen Nordsee aus?«, fragte sie nachdenklich.
»Nicht wirklich. In Husum war ich mal, als ich noch Kind war, aber die Erinnerung ist einfach zu verschwommen. Aber vielleicht kommt sie ja wieder, wer weiß das schon? Außerdem kann man ja auch Bekanntes neu entdecken.«
»Es fragt sich, ob wir schnell nach Hvide Sande kommen wollen, um Stephanie und Sylvia nicht zu lange warten zu lassen. Sie freuen sich doch auf uns.«
Hell blickte zu ihr herüber, genauso unschlüssig wie sie auch.
Schließlich sagte er nur: »Als weißer Fleck bleibt aber immer wieder die »nördliche deutsche Nordseeküste«, von der ich noch nichts kenne.«
Franziska stand auf und kam mit dem Wohnmobilführer zurück. Sie begann, konzentriert zu lesen.
»Okay«, antwortete sie, »Wenn wir nicht Autobahn fahren wollen … dann können wir ja wirklich mal an der Küste hochfahren. Ich dachte an das kleine Fischerstädtchen Husum, wenn du sagst, dass du dort schon einmal warst. Vielleicht passt es zeitlich, um dort zur Mittagszeit ein leckeres Fischbrötchen zu essen.«
Sie fanden, das sollte als erste Orientierung auch ausreichen. Der Reiseführer hatte für diesen Tag seine Schuldigkeit getan.
Von Husum aus würden sie dann später die Landstraße B5 über Bredstedt, Klixbüll und Süderlügum nutzen, um etwas weiter nördlich dann die Grenze zu Dänemark zu überschreiten.
»Dann sehen wir auch was von Land und Leute und müssen uns nicht mit der monotonen Autobahn begnügen«, sagte Franziska und damit war das Thema Tagesroute erledigt. Stephanie würde dann ein paar Stündchen später mit ihrer Ankunft rechnen müssen.
*
Hvide Sande
An der Tür zum Laden von Kjell Kloft hing ein Schild, auf dem stand: »Wegen einer betrieblichen Veranstaltung öffnen wir heute erst um zehn Uhr.«
Die Einwohner von Hvide Sande waren ganz andere Zeiten gewöhnt, denn Kjell stand meist über zwölf Stunden in seinem Laden. Von sieben Uhr morgens bis manchmal acht Uhr abends. Selbst wenn er das Schild, auf dem ‚Geschlossen‘ stand, bereits im Fenster hängen hatte, sollte wirklich noch jemand an die Scheibe klopfen, weil er noch etwas dringend benötigte, Kjell Kloft würde ihm seine Ladentür geöffnet haben. Er nannte es Kundenservice, viele hielten es mittlerweile für ein unumstößliches Gewohnheitsrecht.
Kjell Kloft gehörte zu einer alteingesessenen Kaufmannsfamilie und das Geschäft betrieb er jetzt in dritter Generation. Er hatte bei seinem Vater die Lehre gemacht, ebenso wie dieser bei seinem Vater sein Handwerk gelernt hatte. Daher kannte Kloft jeden Winkel in seinem Laden und jeder kannte ihn.
Diesen Morgen allerdings musste er sich doch die eine oder andere Beschwerde anhören. Was das denn für eine betriebliche Veranstaltung gewesen sei und warum er das nicht schon am Vortag bekannt gegeben hätte.
»Nein, Kjell, das hätte es bei deinem Vater nicht gegeben. Der hatte immer pünktlich seinen Laden offen, Sommer wie Winter. Selbst wenn er sterbenskrank war, er stand immer hinter der Theke, zusammen mit deiner Mutter«, sagte seine treue Stammkundin, die alte Dorflehrerin Anna Rasmussen, völlig entrüstet mit einer für ihr gütiges Gesicht kaum zu vermutenden Zornesfalte auf ihrer Stirn.
»Ich habe mich da etwas seltsam ausgedrückt auf dem Schild«, räumte Kloft ein, um sie wieder gütlich zu stimmen. Nicht nur er, auch viele seiner Altersgenossen hatten bei ihr die Schulbank gedrückt. Sie kannte ihn sogar schon, als er noch in die Windeln geschissen hatte. Ihr Mann, der sich schon vor einem Jahrzehnt nach einem Herzinfarkt, den er mitten auf einem Zebrastreifen erlitt, aus dem Staub gemacht