Oliver Hell - Feuervogel. Michael Wagner J.
grinste Hell.
Auf der zweiten Spur ging es ein wenig flüssiger voran und Hell war froh über jeden LKW, den er jetzt überholen konnte, denn diese würde er später nicht mehr vor sich haben. Trotz der PS des Wohnmobils, hier musste man vorausschauend fahren. 2,8 Tonnen ließen trotzdem keine wirklichen Sprints zu.
Bald hatte sich der Stau erledigt und die Fahrt ging ruhig dahin. Franziska nahm sich den Wohnmobil-Führer zur Hand und las Hell die Beschreibungen der Stellplätze vor.
Bis sie ans Autobahnkreuz Westhofen kamen, hatten sie eine grobe Auswahl an Alternativen gefunden, die Franziska mit Lesezeichen aus einem Kaugummi-Papierchen markierte.
»Jetzt hat die Reise einen Pfefferminzgeruch«, sagte Hell und kaute ebenfalls eifrig auf seinem Kaugummi.
Er verfluchte immer mehr seine Vergesslichkeit. Eine neue Sonnenbrille stand ganz oben auf der Einkaufsliste. Der im Radio groß angekündigte Stau am Westhofener Kreuz entpuppte sich als Strohfeuer.
Als nächste Klippe wurde ein Unfall am Kamener Kreuz gemeldet. Dort sollte sich der Verkehr bereits auf einer Länge von fünf Kilometern stauen. Hell zog die Augenbrauen zusammen, als der Radiosprecher die Meldung verlas.
»Und wenn wir von der Autobahn abfahren würden, was denkst du?«, fragte Franziska.
»Wir sind erst zwischen Schwerte und Holzwickede, als nächste größere Stadt kommt Unna«, überlegte Hell, der die Strecke im Kopf rekonstruierte.
»Das dauert noch eine Weile, meinst du, bis dahin hat sich der Stau erledigt?«
Hell nickte.
»Wie gut, dass kein Tiertransporter dabei ist. Da bekomme ich immer ein schlechtes Gewissen, wenn man sich vorstellt, dass die alle als Burger enden«, sagte Franziska, als vor ihnen ein Gespann mit Pferdeanhänger auftauchte. Sie zog die Mundwinkel nach unten.
»Es gibt auch Anhänger von Pferdefleisch. Ein echter rheinischer Sauerbraten …«, schwärmte er, doch Franziska schlug ihm derb auf den Oberarm.
»Wag es, mir irgendwann Pferd vorzusetzen!«
Hell schmunzelte. Er selber hatte noch nie Pferdefleisch gegessen, dennoch wunderte ihn ihre Reaktion.
»Ich wusste gar nicht, dass du so eine Tierschützerin bist. Hast du damals eigentlich die Morde von Daniel Hesse insgeheim bejubelt?«, fragte er in Anspielung auf den Fall, bei dem sie sich kennengelernt hatten. Daniel Hesse hatte mehrere Männer, die Sex mit Tieren hatten, ermordet oder ihnen eindeutige Tätowierungen im Gesicht zugefügt.
»Bejubelt? Nein, ich kann den Mann und seine Taten nicht bejubeln. Ich bin Profilerin, keine Tierschützerin. Dennoch kann ich jemanden verstehen, der sich für Tiere einsetzt. Aber Hesse ist wirklich zu weit gegangen. Wobei diese Männer für mich noch viel kränker waren als er. Ich sehe das so: Mensch ist Mensch und Tier ist Tier. Er hat sich zum Rächer der Tiere aufgeschwungen. Schließlich er ist ja auch dafür verurteilt worden.«
Daniel Hesse verbüßte eine lebenslange Strafe für seine Morde an Lohse, Dempf und Zylau. Der Verteidiger hatte seine Gesundheit ins Feld geführt und damit argumentiert, dass Hesse zum Tatzeitpunkt noch unter den Nachwehen einer posttraumatischen Belastungsstörung litt, auch ein Gutachter bestätigte das. Darauf ließ sich der Richter nicht ein, er sah allerdings auch keine besondere Schwere der Tat, sodass Hesse nach fünfzehn Jahren einen Antrag auf vorzeitige Entlassung stellen konnte.
»Ich sehe ihn noch auf der Anklagebank sitzen. Wie ein Häufchen Elend. Das war nicht der heldenhafte ‚Zoophilen-Killer‘, zu dem ihn die Presse gemacht hatte.«
Nach dieser langen Haftzeit würden ihn seine beiden Kinder sicher schon vergessen haben. Außer seiner Frau war keiner aus der Verwandtschaft im Gerichtssaal aufgetaucht. Nicht sein Vater, nicht seine Schwiegereltern. Aus Scham?
Denselben Gedanken schien auch Franziska zu haben. »Als Familienvater habe ich vor allem eine Verantwortung meinen Kindern gegenüber. Da sind Tiere nebensächlich.«
Hell sah zu ihr herüber. Er hatte das Gefühl, dass sie noch etwas sagen wollte, es aber nicht tat.
»Wir werden nicht ergründen, was ihn wirklich dazu bewogen hat. Dennoch bin ich ihm ein klein wenig dankbar. Ohne Hesse würdest du jetzt nicht in diesem Wohnmobil neben mir sitzen.«
Sie legte ihre Hand auf seine, die auf dem Schaltknüppel lag.
»Wir trinken einen Aquavit auf Daniel Hesse, wenn wir in Hvide Sande sind.« Ihre Stimme klang beinahe zärtlich.
»Oder zwei«, sagte Hell und nahm ihre Hand.
*
Hvide Sande
Noch waren die kleinen Geheimnisse nicht aufgetaucht und auch nicht die großen. Damit es auch so bleiben konnte, musste er sich absichern.
Torben Hille schob den Rollladen am Schrank herunter und suchte ein Formular. Ohne große Begeisterung. Am liebsten wäre er gar nicht aufgestanden, denn der Mann, um den er sich kümmern musste, war ihm zutiefst unsympathisch.
Der Mann hieß Nils Ole Andresen. Er war der Bürgermeisterschaftskandidat der rechtspopulistischen Dänischen Volkspartei. Wie in vielen anderen europäischen Ländern verbuchten auch die dänischen Rechten erschreckende Zugewinne.
»Und Sie sind sich nicht sicher, wen Sie dort gesehen haben? Nur, dass er etwas getragen hat?«, fragte Torben Hille, der Dorfpolizist. Mit einer gelangweilten Geste zog er ein Formular hervor und legte es dem Mann hin, der vor seinem Tresen stand.
»Für diese Art der Anzeige gibt es eigentlich keinen Tatbestand. Es handelt sich um keinen Diebstahl, um keine Erregung öffentlichen Ärgernisses, ebenfalls nicht um eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit. Ich kann nur eine Zeugenaussage aufnehmen, wobei ich noch nicht einmal ein Ereignis eintragen kann, für das ich Sie als Zeuge angeben könnte.«
Andresen schaute ihn mit einer Mischung aus Verachtung und Misstrauen an.
»Wissen Sie, was ich mich schon seit Jahren frage, Herr Hille?«
»Nein, aber ich bin mir sicher, Sie werden es mir gleich sagen, Herr Andresen. Tun Sie sich keinen Zwang an.« Hille spiegelte den Blick des Bürgermeisterschaftskandidaten. Wäre ihm nicht diese rechtsorientierte Partei sowieso schon wegen ihrer politischen Ausrichtung zuwider gewesen, so hätte die Person Andresen ihn dazu gebracht, diese Partei nicht zu mögen. Er, wie auch viele andere, räumten der politischen Zukunft der Partei keine wirklichen Chancen auf das Amt des Bürgermeisters ein, doch war im komplizierten politischen System Dänemarks vieles möglich.
»Ich frage mich, wie Sie es jemals geschafft haben, eine Polizeischule abzuschließen.«
Was er jetzt in Worte gefasst hatte, erfüllte noch nicht den Tatbestand der Beamtenbeleidigung, es schrammte aber haarscharf daran vorbei.
»Ich denke, wir haben dann alles zu diesem Thema gesagt, Herr Bürgermeisterkandidat«, sagte Hille und ließ sich seinen Ärger nicht anmerken. Er nahm das Formular wieder vom Tisch und drehte dem Mann den Rücken zu.
»Wenn ich gewählt werde, dann werde ich dafür sorgen, dass Sie hier nicht länger Polizist sind«, sagte Andresen, der sich über die verpuffte Provokation ärgerte.
»Na, da haben unsere Wähler noch ein Wörtchen mitzureden«, sagte Hille und legte sich ein gekünsteltes breites Grinsen aufs Gesicht.
»Freuen Sie sich nicht zu früh, Herr Dorfpolizist.«
»Noch haben Sie nicht eine einzige Stimme eingefahren, Herr Andresen!«
Sie lösten den Blickkontakt und Andresen verließ die kleine Polizeistation in Hvide Sande.
Arrogantes Arschloch, dachte Hille und verschloss den Rollladenschrank mit einem lauten Krachen, das noch eine Weile in seinem Kopf nachhallte.
*
Kamener Kreuz,