Oliver Hell - Feuervogel. Michael Wagner J.
drauf an, ob wir durchfahren oder hier und da einen Halt machen. Es sind noch etwas über dreihundert Kilometer, wenn wir die westliche Route ohne Autobahn nehmen, sind es weniger, dafür dauert es etwas länger«, antwortete Hell.
»Wann erwarten uns Stephanie und ihre Freundin?«
»Sie wissen, dass wir eventuell einen Tag länger brauchen. Sie sind ebenfalls heute Morgen losgefahren.«
»Schicke Ihnen doch eine SMS und frage, ob sie schon angekommen sind.«
Franziska legte sich einige Stücke eines französischen Weichkäses auf den Teller. Hell wollte aufstehen, um sein Handy zu holen.
»Nein, bleib, das hat noch Zeit bis nach dem Essen.« Hell stand trotzdem auf, Franziska blickte ihm nach.
»Ich möchte es trotzdem wissen«, sagte er und setzte sich mit dem Smartphone in der Hand. Er tippte einige Worte ein, sendete und legte das Telefon dann neben sich auf den Tisch.
»Wie weit ist es von dem Stellplatz bis zu Stephanies Ferienhaus?«, fragte sie und biss in ihr Baguette.
Hell schüttelte den Kopf. »Ich habe keine Ahnung. Kommt drauf an, welchen wir nehmen.«
Das Handy piepte. Hell las die Nachricht. »Sie sind da«, sagte er, »Sie meint, sie seien an einem Campingplatz vorbeigekommen, der nur ein paar Kilometer von ihrem Haus entfernt liegt. Der heißt Norre Lyngvig und liegt am Holmsland Klitvej.«
»Klingt doch nach einem Urlaub der kurzen Wege«, analysierte Franziska.
Hell tippte noch schnell eine Antwort, dann nahm er einen Schluck Wein.
»Dafür, dass wir keine Ahnung von Fahrten mit einem Wohnmobil haben, ist doch bis jetzt alles gut verlaufen.«
Sie erwiderte seinen Blick und er glaubte darin lesen zu können, dass sie diese Tatsache genauso beruhigte wie ihn auch.
»Ich freue mich schon so auf den Strand und das Wasser und die Wellen, auf gemütliches Zusammensitzen, Grillen und auf den Wein, den wir trinken werden.«
Sie streckte die Arme aus, als wolle sie die ganze Welt umarmen. Dabei schlug sie mit der Hand gegen das Fenster neben sich.
»Upps!«
»Stephanie wollte heftig einen zechen und mit uns pokern«, erinnerte sich Hell. »Pokern? Ich kann nicht pokern!«
»Das wird sie uns schon beibringen.«
»Dann wirst Du mein Leck’sches Pokerface kennenlernen«, sagte sie und machte ein völlig regungsloses Gesicht, um kurz darauf in Lachen auszubrechen, »Wie gut, dass ich so etwas nie lange durchhalte.«
»Das geht mir genauso, bei unseren Doppelkopf-Abenden früher hat auch immer jeder gesehen, wenn ich gute Karten hatte. Ich kann mich dabei nicht verstellen.«
»Was für einen Kriminalen aber keine gute Einrichtung ist. Da brauchst du schon ein Pokerface, wenn du einen schweren Jungen vor dir hast.«
Hell schwang seinen Finger über dem Teller und schüttelte den Kopf. Er musste erst kauen, bevor er protestierte. »Das ist was anderes. Das kann ich sehr wohl, das weißt du.«
»Naja, wir werden sehen, wie du dich beim Pokern schlägst.«
Mit Glas Wein Nummer zwei setzten sie sich später noch vor das Wohnmobil auf die Stühle, die Hell doch noch eilig aus der Garage hervorgeholt hatte. Es folgte Glas Nummer drei und vier. Im Hintergrund lief das Autoradio. Der Wettermann versprach für den kommenden Tag Temperaturen bis dreißig Grad.
Sie planten, am nächsten Morgen in aller Herrgottsfrühe aufzustehen, eine Kleinigkeit zu frühstücken und sich dann auf den Weg nach Dänemark zu machen. Franziska äußerte den Wunsch, noch nach Flensburg zu fahren, bevor sie die Grenze überschreiten würden.
Zufrieden mit den Planungen für den nächsten Tag kippte sich Hell zum Abschluss den letzten Schluck Wein auf die Bermuda-Shorts.
*
Hvide Sande
Die Nacht legte sich wie ein schützendes Tuch über ihre Aktivitäten. Mit ausgeschalteten Scheinwerfern näherte sich ein Jeep der alten Fischerkate, der Fahrer kannte den holprigen Weg auch ohne Licht. Er stellte den Motor aus, kurbelte das Fenster ganz herunter und horchte in die Nacht hinein.
Nichts. Kein Laut war zu vernehmen. Selbst der Wind, der den ganzen Tag über die Werbefahnen vor seinem Geschäft in hektische Aufregung versetzt hatte, flaute mehr und mehr ab. Er öffnete die Autotür. Aus der Kate war kein Laut zu vernehmen. Eigentlich hatte er erwartet, einer der Hunde würde anschlagen und die anderen würden ins Konzert einfallen. Doch noch blieb alles ruhig.
Kjell Kloft wartete auf Merit Holzheuser. Sie hatte mit den Tierschützern aus Deutschland das letzte Telefonat geführt und wusste genau, welcher der Hunde heute die Reise ins sichere Ausland antreten würde. Drei Hunde hatten sie in der Kate in Sicherheit gebracht, sie waren von der Polizei als gefährlich eingestuft und ihnen drohte der nahe Tod. Zu dem schwarzen Retriever, der schon seit einigen Tagen in der Kate ausharrte, hatten sich noch ein kleiner Mischling und ein Schäferhund gesellt. Die Mischlingshündin, die kaum größer war als ein ausgewachsener Dackel, hatte einen aufdringlichen Rüden in die Schranken gewiesen. Als dieser sie daraufhin attackierte, zwickte sie ihn einige Male in die Schnauze. Dieser Vorfall wäre wahrscheinlich in Deutschland über die Hundebesitzer oder, wenn wirklich Tierarztkosten anfielen, über die Haftpflichtversicherung abgewickelt worden.
Doch in Dänemark musste jeder Beißvorfall der Polizei gemeldet werden. Seit dem Jahr 2010 erlaubte ein Gesetz der Polizei, die Hunde, die an solchen Vorfällen beteiligt waren, zu konfiszieren und schlimmstenfalls einschläfern zu lassen. Die Besitzer standen dabei und mussten tatenlos zusehen, wenn ihre Familienmitglieder aus dem Haus geführt wurden und im Polizeiwagen verschwanden. Oft für immer. Hier gab es Tränen bei den Kindern, Wut und Hilflosigkeit unter den betroffenen Erwachsenen. Dagegen wandten sich die dänischen Tierschützer. Sie griffen ein, bevor die Polizei sich der Tiere bemächtigen konnte, brachten sie an einem geheimen Ort in Sicherheit, um sie dann in Nacht– und Nebelaktionen über die Grenze nach Deutschland zu bringen. Sie riskierten dabei sehr viel. Die Polizei war den unerkannt tätigen Dänen meist einen Schritt hintenan. Um nicht entdeckt zu werden, wurden diese Transporte meist bei Neumond durchgeführt.
Doch dieses Mal mussten sie eine Ausnahme machen. Mit drei Hunden in der Kate war die Gefahr, dass jemand zufällig das Bellen der Hunde hören und die Polizei informieren würde, zu groß, deshalb mussten sie handeln.
Kloft hörte ein Motorengeräusch, das sich auf dem gleichen Weg näherte, auf dem auch er gekommen war. Er erkannte den alten Ford Bronco von Merit Holzheuser, der kurze Zeit später hinter seinem Fahrzeug hielt. Die zierliche Frau sprang aus dem Fahrerhaus. Neben dem großen Fahrzeug wirkte sie noch zerbrechlicher, als sie es sowieso schon war.
»Hallo Kjell, schön, dass alles so gut klappt«, sagte sie und umarmte ihren Freund.
»Welchen Hund nehmen sie auf?«
»Den kleinen Mischling und den Schäferhund. Der Retriever muss noch warten. Leider.«
Sie hatten den Schäferhund erst in der letzten Nacht hierher gebracht. Es war wie so oft, aus einer harmlosen Rauferei wurde ein Beißvorfall. Der Hund, ebenfalls ein Familienhund, der zusammen mit Katzen und Kaninchen sowie drei kleinen Kindern lebte, wurde stigmatisiert und sollte eingeschläfert werden. Auch hier griffen die Venner ein.
Es war nicht so, dass in jedem Ort in Dänemark die Tierschützer in den Untergrund gingen, um Hunde zu retten, es gab sie nur hier und da. An manchen Orten passierte nichts, doch hier in Hvide Sande waren einige von ihnen aktiv.
Der abnehmende Mond versteckte sich hinter einer Wolke, als sie die beiden Hunde aus dem provisorischen Zwinger holten. Sie leckten sich ihre Schnauzen, weil sie nicht wussten, was mit ihnen passierte.
Die Venner