Schrecken der Vergangenheit. Nadine Kim Wulf

Schrecken der Vergangenheit - Nadine Kim Wulf


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um diese Zeit beinahe allein auf weiter Flur zu sein und das langsam immer stärker werdende Licht der aufgehende Sonne schenkte ihr ein Gefühl des Friedens und der inneren Ruhe.

      Im Hintergrund hörte sie leise Musik, die von einer CD abgespielt wurde. Sie hatte die Titelauswahl selber ausgewählt und auf einen Rohling gebrannt. Allesamt Songs, die sie einfach nur gerne hörte und die ihr halfen, ihre Gedanken zu ordnen. Und davon gab es heute Morgen eine Menge zu sortieren. Obwohl sie in der letzten Nacht kaum ein Auge zugemacht hatte, fühlte sie sich so lebendig wie schon lange nicht mehr. Die Erinnerung an die letzten zwölf Stunden entlockten ihr ein Lächeln.

      In Nikolas hatte sie das gefunden, was sie in den vergangenen Jahren vergeblich gesucht hatte. Jemanden, dem nicht nur sie hatte helfen können, sondern der im Gegenzug auch immer für sie da sein würde. Jemanden, der zuhörte und ihr, wenn nötig, eine starke Schulter zum Anlehnen bieten konnte. Bei dem Gedanken musste sie erneut schmunzeln, hatte sie doch letzte Nacht weit mehr als nur eine starke Schulter von ihm bekommen. Das gestern im Auto war nur Sex. Zwar eine wahnsinns Erfahrung, aber in erster Linie nur ein notwendiges Ventil für beide gewesen, um das, was dann folgte, mit allen Sinnen genießen zu können. Sie hatten sich geliebt. Hatten sich stundenlang festgehalten, miteinander geredet und die Zweisamkeit genossen.

      In seiner Gegenwart hatte sie einfach das Gefühl, angekommen zu sein. Dass sie in den kommenden fünf Tagen nur mit seiner Stimme vorlieb nehmen musste, schob sie rasch beiseite und beschränkte sich darauf, sich einfach auf das nächste Wochenende zu freuen.

      Wenn sie zurückfuhr an den Ort, der ab sofort ein zu Hause für sie bedeuten sollte.

      Sie war jetzt Teil einer wunderbaren Familie, die stets füreinander einstanden. Und auch, wenn es ihr immer noch schwer fiel, sich dessen wirklich bewusst zu werden, er hatte es ihr gestern Nacht versichert. Dabei war sein Blick so anziehend, dass sie keine Chance mehr hatte, zu widersprechen.

      Wie aus dem Nichts, tauchten hinter ihr plötzlich Scheinwerfer auf und holten Thea zurück ins Hier und Jetzt. Der Wagen, ein großer schwarzer Pick Up, fuhr so dicht auf, das sie instinktiv nervös wurde.

      <<Du blöder Idiot!>>, fauchte sie. <<Überhol doch einfach.>>

      Der Fahrer gehorchte und im nächsten Augenblick schoss das Ungetüm mit tosendem Gebrüll an ihr vorbei und zog davon. Als der Wagen außer Sichtweite war, entspannte Thea sich wieder.

      „ Vollpfosten gibt es wirklich überall “, dachte sie und durchsuchte die Playlist auf der CD. Für einen kurzen Moment war sie dadurch abgelenkt, doch als sie wieder aufblickte, war der schwarze Wagen urplötzlich wieder da. Er stand direkt in einer Kurve, so dass ihn Thea erst sehr spät sehen konnte. Abrupt stieg sie auf die Bremse und riss das Steuer rum. Das Heck brach aus und krachte mit einem heftigen Aufprall gegen einen Baum am Straßenrand. Dann war alles ruhig.

      Thea blieb einen Moment regungslos in ihrem Wagen sitzen, bevor sich der Nebel in ihrem Kopf langsam verzog. Vorsichtig bewegte sie sich und zuckte zusammen, als sie den Schmerz an der Stirn spürte. Anscheinend hatte sie sich bei dem Aufprall den Kopf gestoßen. Blut konnte sie keines feststellen, aber die Schwellung war schon jetzt deutlich spürbar. Mit einem Mal brach alles über sie herein.

      <<Winston!>>, rief sie aufgeregt und suchte hektisch den Rücksitz, nach dem Hund ab. Aber er war nicht da. Natürlich nicht. Denn sie hatte ihn auf dem Hof gelassen, wie sie es schon seit einigen Wochen tat und wo er einfach besser aufgehoben war als in einem kleinen Büro.

      „ Du musst dir ganz schön die Birne angeschlagen haben, wenn du das nicht mehr weißt “, dachte sie benommen.

      Mit geschlossenen Augen atmete sie noch einmal tief durch und tastete nach dem Türgriff. Ohne Erfolg.

      Die Tür war bereits geöffnet worden. Und noch bevor Thea verstand, was hier vor sich ging, spürte sie einen kleinen Einstich an ihrem Hals. Dann wurde es endgültig dunkel um sie herum.

       Montag, 06. Mai, 08 Uhr 10

      Noch immer etwas bleich um die Nase, startete Anni den Hauptrechner. Auch der heutige Tag begann, wie zu erwarten, über der Toilettenschüssel. Aber dank dieser scheußlich schmeckenden Tropfen, die ihr Chris aus der Apotheke besorgt hatte, ging es schon deutlich besser. Zwar hatte Maximilian darauf gedrängt, sie möge doch besser im Bett bleiben, aber Anni wollte sich diese Blöße nicht geben. Und der allmorgendliche Trott half ihr dabei, nicht ständig an die Übelkeit zu denken.

      Im Augenblick war es noch ruhig, aber da heute Montag war, durfte sie sich sicher sein, genügend Ablenkung zu bekommen. Der Kalender zeigte sich schon jetzt gut gefüllt. Nur noch einzelne freie Termine für den Nachmittag konnte sie vergeben. Und die Erfahrung zeigte, dass sich das bis spätestens zehn Uhr auch erledigt haben sollte. Es war wirklich ein Phänomen. Anni hatte jeden Montagmorgen das Gefühl eines Déjà-vu. So, als ob die Welt Kopf stehen würde und es am nächsten Tag keine Tierärzte im Land mehr geben würde. Ironischerweise war es genau diese Art von Ablenkung, die sie sich jetzt wünschte.

      Im hinteren Bereich hörte sie Chris, die mit tosendem Geklapper den OP für die bevorstehenden Termine herrichtete. Es war fast so wie früher, denn seit einigen Wochen bildeten sie wieder zusammen ein Team, was zur Folge hatte, dass die Heiterkeit und der Spaß an der Arbeit zurückgekehrt waren.

      Ihre letzte Auszubildende, Julia, hatte sich für einen anderen Berufsweg entschieden und bisher wurde noch kein Ersatz gefunden.

      Es geschah nicht selten, dass die jungen Mädchen völlig falsche Vorstellungen von dem hatten, was in Wirklichkeit in den meisten Praxen vor sich geht. Den ganzen Tag mit Tieren zu verbringen und ihnen zu helfen, war zweifelsohne ein starkes Motiv, nur leider zeigten sich die wenigsten Vierbeiner dankbar und kooperativ.

      Und auch wenn sich Anni vor vielen Jahren genauso beratungsresistent gezeigt hatte, für sie war und sollte es wohl noch lange der schönste Beruf bleiben. Insgeheim war sie sowieso der Meinung, dass Julias Eltern nicht damit klar kamen, dass ihre Tochter weiterhin in einem Gebäude arbeitete, in dem sich vor einem Jahr, diese grausamen Szenen abgespielt hatten. Was sie ihnen auch nicht verübeln konnte. Hatte sie doch selber Zeit gebraucht, die ganzen schrecklichen Bilder zu verarbeiten.

      Mittlerweile war das komplette Programm hochgefahren und der Rechner zeigte sich startklar. Blieben nur noch die drei anderen, die so miteinander verbunden waren, dass Behandlungen von allen Plätzen aus einsehbar sein konnten. Anni ging von Raum zu Raum und wiederholte die gleiche Prozedur. Der letzte Rechner befand sich im Büro, dass inzwischen nur von Maximilian benutzt wurde. Sie hatten es komplett verändert und nach seinen Bedürfnissen hergerichtet.

      Früher gehörte es seinem Vater. Vor diesem tragischen Tag, an dem er hier beinahe sein Leben verloren hätte. Als sie die angelehnte Tür ein Stück weiter aufdrückte, umspielte sie eine kühle Brise. Die große Terrassentür stand speerangelweit offen. Anni verdrehte die Augen. Wahrscheinlich hatte Chris sie geöffnet, um frische Luft herein zu lassen. Das war nicht nur ein Tick von ihr, sie schien darin beinahe fanatisch zu sein. Eine Eigenschaft, die sie sich mit Sicherheit von Nik abgeschaut hatte. Anni hingegen war eher so der wärmeliebende Typ. Frischluft war ja gut und schön, aber eine Zimmertemperatur von gefühlten 10 Grad war alles andere als angenehm.

      Sie hatte bereits den Türgriff in der Hand, als eine Bewegung am Rande ihres Sichtfeldes sie aufschrecken ließ.

      Sie wirbelte herum und konnte nicht glauben, was oder besser wen sie da sah. Mit weit aufgerissenen Augen und eine Hand auf den Mund gelegt, starrte sie auf das Regal an der gegenüberliegenden Wand. Nik stand mit dem Rücken zu ihr und kratzte sich am Hinterkopf. Er schien etwas zu suchen und hatte von ihrer Anwesenheit noch nichts mitbekommen. Nur langsam schaffte sie es, sich aus ihrer Schockstarre zu befreien. Darauf bedacht, keine unnötigen Geräusche von sich zu geben, schlich sie auf leisen Sohlen aus dem Zimmer. Ihr Herz schlug ihr immer noch bis zum Hals. Auf diesen Moment hatten sie so lange gewartet. Jetzt würde alles wieder seinen normalen Gang nehmen. Das hatte sie im Gefühl.

      Und Chris würde gleich vor Freude ausrasten, wenn sie das zu sehen bekam. Die ersten Schritte, Richtung OP war sie noch geschlichen, aber


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