Schrecken der Vergangenheit. Nadine Kim Wulf

Schrecken der Vergangenheit - Nadine Kim Wulf


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in Falten, als sie von dem Besteck aufschaute und in das bleiche Gesicht ihrer Freundin blickte.

      <<Ist dir wieder schlecht?>>, fragte sie. <<Wehe, du kotzt mir hier auf den Boden.>> Noch immer außer Stande, einen vernünftigen Satz von sich zu geben, schüttelte Anni langsam den Kopf. <<Das... das… musst du dir ansehen>>, stammelte sie und zog Chris am Arm mit sich. Es hätte nicht viel gefehlt und das Tablett mit dem OP-Besteck wäre auf dem Boden gelandet.

      <<Was ist denn los?>>, rief Chris und versuchte irgendwie das Gleichgewicht zu halten.

      <<Schsst…>>, zischte Anni. <<Komm einfach.>> Chris verstand die ganze Aufregung nicht, aber es musste etwas Wichtiges sein, so komisch, wie sich Anni verhielt. Sie stoppte abrupt vor dem Büro und legte den Zeigefinger auf ihre Lippen. Dann nickte sie in Richtung Regalwand. Die Stirn immer noch kraus gezogen, spähte Chris neugierig hinein. Und dann war sie es, die die Hand vor ihren Mund presste, um einen Schrei zu unterdrücken. Ihr Kopf schoss nach links, wo sich ihre und Annis Blicke trafen. Ein unbeschreibliches Gefühl der Freude und Ergriffenheit durchfuhr ihr Innerstes.

      Eine Träne löste sich aus ihrem Augenwinkel und suchte sich den Weg über ihre Wange. Mit einem Lächeln spürte sie Annis Hand auf ihrer Schulter. Das war der schönste Anblick seit Langem. Besser noch. Es schien Nik nichts auszumachen, sich in diesem Zimmer aufzuhalten. Er summte unaufhörlich eine Melodie vor sich hin, während er akribisch die einzelnen Regalböden durchsuchte, aber allem Anschein nach, nicht das fand, was er suchte. <<Mhhh.. wo hat er nur…>> Nik brach den Satz ab, als er sich umdrehte und die beiden erspähte, die ihn immer noch unverhohlen anstarrten. <<Herrgott nochmal. Was schleicht ihr denn hier so rum? Mir wäre fast das Herz stehen geblieben.>>

      <<Uns auch>>, flüsterte Chris. <<Geht’s dir gut?>>

      Er zog die Augenbrauen zusammen. <<Abgesehen davon, dass es seit neuestem ein Trend von euch zu sein scheint, mich in einen Nervenzusammenbruch zu treiben, alles bestens.>>

      <<Gut>>, stammelte Anni wenig überzeugend. Ihre Blicke ruhten weiterhin auf seiner Person und lasteten jetzt beinahe tonnenschwer auf seinen Schultern. Die beiden standen mit gefalteten Händen vor ihm. Bereit einzugreifen, wenn die Situation es von ihnen verlangte. Und plötzlich fiel es auch ihm wie Schuppen von den Augen. Warum sich die beiden so komisch benahmen und wo er sich befand. Er hatte diesen Raum seit einem Jahr nicht mehr betreten. Weil er es einfach nicht konnte. Weil schon der Gedanke an diese vier Wände genügten, ihn in Angst zu versetzten. Aber etwas in ihm hatte sich verändert. Kaum zu sehen, holte er tief Luft und zwang sich einen Blick auf die Stelle zu riskieren, wo er vor gut zwölf Monaten stundenlang um sein Leben gekämpft hatte. Zu seiner Überraschung schlug sein Herz ganz normal und nicht wie üblich bis zum Hals. Endlich. Der letzte Punkt auf seiner To-do Liste. Abgehakt.

      Er hatte gestern einen mehr als turbulenten Tag erlebt. Mit einem wundervollen Abschluss und einer noch wundervollere Nacht.

      Und das Glück, dass er immer noch in seinem Herzen trug, hatte wohl ausgereicht, ihn diesen letzten Schritt, ohne dass es ihm großartig bewusst gewesen wäre, gehen zu lassen.

      Eine schlüssige Erklärung, wie er fand, fühlte er sich doch immer noch unbesiegbar und unheimlich stolz. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen und endlich entspannten sich auch Chris und Anni.

      <<Wo ihr schon hier seid>>, fragte er um die Situation weiter zu besänftigen. <<Hat einer von euch den neuen Pschyrembel, den Maximilian sich geborgt hat, gesehen? Ich hab gleich einen Termin bei Wagners und muss dringend noch was recherchieren. Und hier findet man ja nichts mehr wieder.>>

      Chris verdrehte die Augen, während Anni zweideutig grinste. <<Ja. Das liegt wohl in der Familie. Die Ordnung und so>>, fügte sie hinzu und zog das grüne, dicke Buch aus einem Stapel auf dem Schreibtisch hervor.

      <<Ah, sehr gut. Danke. Ich bin dann auch gleich unterwegs>>, sagte Nik und klemmte sich das Buch unter den Arm. Pfeifend ging er an den beiden vorbei. <<Falls was ist, ihr erreicht mich auf dem Handy. Also bis später.>>

      <<Bis später >>, antworteten beide im Chor und sahen ihm nach.

      <<Jetzt wird alles wieder wie früher>>, flüsterte Chris. Eine schöne Vorstellung und plötzlich empfand sie eine so starke Sehnsucht, dass es ihr im Herzen wehtat. Einen kurzen Moment später hörten sie Niks tiefe Stimme.

      <<Ähm… Sind wir eigentlich offiziell im Urlaub?>> Sein Gesicht spähte durch die angelehnte Tür.

      <<Nein. Wieso?>>, fragte Anni irritiert.

      <<Nicht? Okay. In dem Fall macht doch bitte den Anrufbeantworter aus>>, antwortete er mit spielerischer Leichtigkeit. Alle sollten es sehen. Er fühlte sich seit gestern, wie neu geboren. Sein Leben machte endlich wieder Sinn.

      Und dieses Gefühl mit seinen Liebsten zu teilen, bedeute ihm alles, auch wenn er sich dabei im Augenblick etwas übermütig benahm. Völlig egal, denn damit mussten heute wohl alle klar kommen.

       Montag, 06. Mai, 10 Uhr 55

      <<Also dann sehen wir uns am Donnerstag wieder>>, sagte Nik und streckte dem Pferdebesitzer seine Hand entgegen.

      <<Danke Dr. Berger. Und sie glauben immer noch, dass wir die alte Dame wieder fit kriegen? Meine Enkelin liebt das Pony und ich würde ihr nur ungern erklären müssen, warum Dolly nicht mehr bei uns ist.>>

      Nik lächelte. <<Ich kann Ihnen nicht garantieren, dass Sie beim nächsten Anflug von jugendlichem Leichtsinn vorsichtiger sein wird, aber die Wunde sieht gut aus und für den Moment bin ich mehr als zufrieden.>>

      <<Schön>>, antwortete der Mann knapp und verabschiedete sich mit einem festen Händedruck. Froh über den glücklichen Ausgang dieser Geschichte, räumte Nik sämtliche Behandlungsgegenstände zurück in seine Tasche. Er betreute die kleine Stute schon von Anfang an und in der vergangenen Woche hatte diese wirklich einen Schutzengel dabei gehabt. Sie war auf der Weide aus ungeklärter Ursache ausgerutscht und hatte sich in einem Stück Stacheldraht verfangen. Und hätten die Besitzer nicht so schnell reagiert, hätte die ganze Sache viel schlimmer enden können. Er schloss die Kofferraumklappe seines Wagens und setzte sich hinter das Steuer.

      Langsam rollte der SUV von Wagners Auffahrt zurück auf die Landhauser Straße Richtung Stadtzentrum. Ein Anruf der Praxis ging ein und unterbrach die Stille im Wageninneren.

      <<Was gibt´s Anni?>>, meldete sich Nik sofort.

      <<Chris hat eben den alten Pröpper am Telefon gehabt.>>

      <<Macht der Jungbulle wieder Probleme?>>

      <<Nein. Angrenzend zu einer seiner Weiden gab es wohl einen Autounfall und dabei soll vermutlich ein Wildtier zu Schaden gekommen sein. Kannst du dir das mal ansehen?>>

      <<Mach ich. Ich bin sowieso gerade fertig. Und ihr kommt klar?>>

      <<Ohne dich? Das wird schwer.>>

      <<Das dachte ich mir. Ciao>>, sagte er und beendete das Gespräch.

      Eine Viertelstunde später hatte Nik den kleinen, etwas in die Jahre gekommenen Hof, erreicht. Gerd und Maria gingen beide steil auf die Siebzig zu und die jahrelange, harte Arbeit zollte nun langsam ihren Tribut. Sie taten ihr Möglichstes, waren aber körperlich nicht mehr unbedingt in der Lage, den Hof zu bewirtschaften. Die beiden Söhne hatten keine Lust, das Werk des Vaters fortzuführen. Was man ihnen in Anbetracht der heutigen Situation auch nicht verübeln konnte.

      Marius, der ältere, lebte in Hamburg. Seinen Bruder Hendrik zog es nach Stuttgart, wo er inzwischen selbst eine Familie gegründet hatte. Fern der eigentlichen Heimat. Ein Zustand, der vor allem für Maria nicht leicht war. Gerne hätte sie ihre Enkelkinder öfter um sich gehabt. Aber alles aufgeben, um in einer kleinen Wohnung in einer Großstadt zu leben? Das wäre für ihren Mann niemals in Frage gekommen.

      Gerd


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