Ferien, die bleiben. Micky Molken
ein Mist«, fluchte sie. Jetzt hatte sie genau zwei Möglichkeiten, schreiend alles fallenzulassen oder behutsam die Abdeckung auf Harrys Höhle zurückzusetzen. Für einen Moment entschied sie sich weder für das Eine noch für das Andere. Sie haderte mit sich. Eigentlich wäre es klug, nachzuschauen, ob Harry tatsächlich auf der Unterseite der Abdeckung saß. Auch auf die Gefahr hin, dass die Spinne sie angreifen und ihre Waffen in ihr Finger rammen würde, denn Harry war äußerst aggressiv. Denise wurde mulmig zumute und die Hände waren eiskalt. Vorsichtig drehte sie den Deckel herum. Sie atmete erleichtert auf. Harry saß nicht unter der Höhlenabdeckung. Aber in seiner Behausung auch nicht. Und das ließ Denise erneut frösteln. Sie schnaufte. Verdammt, wo könnte er sein? Es gab nicht allzu viele Verstecke innerhalb des Terrariums, wo das Übel sich hätte verkriechen können. Im Grunde genommen nur das eine und das war leer. Das Heimchen krabbelte stolzierend in Harrys Revier umher.
Dann schreckte Denise auf. Sie schrie laut und fasste sich sofort an ihr pochendes Herz. Gottverdammt!
»Harry, du blöde Sau, musst du mich so erschrecken!«
Das hatte die Spinne noch nie zuvor gemacht. Zum ersten Mal hatte Harry sich unterhalb der Erdoberfläche vergraben. Er spürte die Bewegung des anrückenden Graspferdchens. Gut getarnt schnellte er hervor und packte seine Beute mit voller Wucht. Hastig schloss Denise sofort die Klappe des Terrariums.
Erleichtert stellte sie die Packung mit den Heimchen neben dem Terrarium ab. Ihr Zirpen, das in der ganzen Wohnung zu hören war, rief nach dem ersten morgendlichen Schreck eine Sehnsucht in Denise hervor. Das Verlangen nach Sommer, Sonne, Strand und blühenden Wiesen mit hohen Gräsern. Sie schaute zum Fenster und beobachtete die Regentropfen, wie sie sanft niederfielen. Draußen war schmuddeliges Herbstwetter. Wenn es nach ihr ginge, könnte es Sommer sein oder besser noch Frühling. Den Frühling liebte sie, wenn alles aus dem winterlichen Tiefschlaf erwachte, die ersten Blumenknospen aufbrachen und die Luft nach frisch gemähtem Gras duftete. Aber wenn es schon kein Frühling war, dann sollt es zumindest ein strenger frostiger Winter mit meterhohem Schnee sein. Das alles war besser als die trübe Suppe, die schon seit Tagen auf Denises Gemüt schlug.
Sie seufzte. Egal wo sie hinschaute, alles wirkte chaotisch. Bis auf ein Zimmer, das seit zwei Tagen komplett eingerichtet war. Dort hatte bereits alles seinen Platz. Das Schlafzimmer! Das Fuhrunternehmen war damit beauftragt worden, sämtliche Schlafzimmereinrichtung zuerst zu transportieren. Den Inhalt der Möbel hatte sie in Eigenregie befördert. Zwei Fahrten waren nötig. Nachts, in gut verschlossenen Koffern, hatte sie die Sachen mit ihrem Kleinwagen die 270 Kilometer herangeschafft. Sie achtete darauf, dass der Raum immer verriegelt war. Keine andere Person durfte hinein. Keiner außer Denise selbst hatte dort Zutritt. Niemand kannte ihr dunkles Geheimnis. Den Schlüssel der Schlafzimmertür, die mit einem Spezialschloss gesichert war, trug sie immer bei sich.
Zehn Stunden später hatte sie die meisten Umzugskartons geleert und alles an Ort und Stelle gebracht. Denise schnaufte kurz durch. Dann knurrte ihr der Magen. Sie hatte seit dem Frühstück nichts mehr gegessen. Zumal die erste Mahlzeit des Tages nicht üppig ausgefallen war. Es war ihr egal, was das Hungergefühl nun einforderte. Bevor sie etwas essen würde, wollte sie unbedingt die letzten beiden Kartons auspacken.
Seltsam, diese verstaubte Kiste war ihr vorher nie aufgefallen. Wo kam die plötzlich her? Erschöpft, aber dennoch voller Neugier öffnete sie den Karton. Dann musste sie lächeln, als sie hineingriff.
»Das darf doch nicht …«
Es musste schon mindestens 15 Jahre her sein, als sie es zum letzten Mal in den Händen hielt. Denise setzte sich auf den Fußboden, lehnte sich dabei an die Couch und betrachtete den Frontdeckel des Notizbuchs.
»Verrückt! Da ist ja mein Tagebuch«, strahlte sie über beide Ohren. Sie nahm das Buch heraus und öffnete es.
Als Denise die ersten Zeilen las, kam es ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen. Sie hatte Erinnerungen in ein Zeitfenster gefangen, die schon lange, sehr lange her waren. Sie löste ihren Blick von den Seiten des Buchs und fasste einen Plan. Ja, das mach ich! Okay, Planänderung: Die beiden Kartons laufen mir nicht weg. Ich werde sie morgen auspacken. Doch bevor ich es lese, werde ich noch einen kleinen Happen zu mir nehmen.
So stand ihr Entschluss fest. Sie richtete sich auf und lief in die Küche. Dort teilte sie Bananen, Äpfel, Weintrauben und eine Kaki in Stücke, schüttete alles in eine große Porzellanschale und stach eine Kuchengabel hinein. Dann schenkte sie sich ein Glas Rotwein ein, trug alles ins Wohnzimmer und stellte es auf den Couchtisch ab. Denise machte es sich auf dem Liegesofa gemütlich, deckte sich zu und nahm das Buch zur Hand. Sie war angespannt und voller Vorfreude.
Das Buch roch nach altem Papier. Dieser eindringliche Geruch war ihr nicht fremd und keineswegs unangenehm. Ganz im Gegenteil: Es duftete nach Urlaub und nach einem längst vergessenen Erlebnis. Wie lange war es her? Zwanzig Jahre? Dieser modrige, feuchte, erdige Duft erinnerte sie an Italien. Genauer gesagt, war es die Ferienwohnung, die genauso roch. Denise atmete tief ein und nahm einen Schluck Rotwein. Dann tauchte sie in Erinnerungen ab, die sie vor langer Zeit festgehalten hatte.
Kapitel 1
Tagebucheintrag
Was für eine Nacht! Statt einer liebevollen und zärtlichen Berührung traf mich der Sonnenstrahl wie ein Laserschwert direkt ins Gesicht. Reflexartig leitete ich erste Gegenmaßnahmen ein. Innerhalb von wenigen Millisekunden schloss ich die Augenlider. Doch es war zu spät, ich war bereits schwer getroffen. Vor meinem inneren Auge tanzten regenbogenfarbige Punkte, die zu Sternen mutierten und in bunten Sternschnuppen niedergingen. Und genau ab dem Moment war mir klar, dass es mit dem Schlaf vorbei war. Kochend vor Wut schlug ich die Bettdecke über den Kopf.
»Leck mich doch«, knurrte ich wütend.
Erleichtert atmete ich tief ein. So war es besser - viel besser. Mein schmerzerfüllter Gesichtsausdruck entspannte sich. Endlich war es wieder dunkel, aber leider nicht lautlos. Mein Puls schnellte sofort wieder in die Höhe. Ruhig, Denise. Nicht aufregen. Höre nicht hin. Ignoriere dieses dumme Geschwätz. Blende es einfach aus. Alles wird gut.
»Verdammte Scheiße, ich will mich aber nicht beruhigen. Und was zur Hölle geht da vor sich?« Tierisch genervt stieß ich strampelnd die Bettdecke weg und sprach innerlich mit den Störenfrieden. Welcher Hornochse kann mir sagen, was in einem scheißlangweiligen Vogelleben so interessant sein soll? Habt ihr jemals von dem Wort Rücksichtnahme gehört? Anscheinend nicht, sonst würdet ihr einfach die Klappe halten. Noch besser wäre es, eure Konferenzen auf den Nachmittag zu verlegen, dann, wo jeder normale Mensch arbeiten muss. Oder wie wäre es mit Flüstern, hm? Nur ein wenig leiser reden. Ein bisschen mehr Rücksicht würde mir schon genügen. Aber nein, ihr müsst euch morgens um, ach keine Ahnung, wie spät es ist, lautstark unterhalten. Großartig. Was ist mit euch Baumscheißern eigentlich los? Habt ihr kein Zuhause, oder was? Meine Güte, es kann doch nicht so schwer sein. Wie konnten Vögel am Morgen schon so gut gelaunt sein? Es war ohrenbetäubend! Vermutlich tauschten sie sich über die Ereignisse des Vortags aus. Jeder wollte seine Geschichte zuerst erzählen.
Und in Gedanken stellte ich mir ein mögliches Gespräch vor:
»Ach, meine Liebe. Mein Federkleid sieht so furchtbar aus. Die feuchten Nächte. Nein, alles ist durcheinander.«
»Schätzchen, Ihre Naturlocken sehen entzückend aus.«
»Meinen Sie?«
»Wirklich! Sie sollten öfter Ihr Federkleid so tragen. Es sieht so natürlich aus. Wie gerne würde ich mich mit Ihnen weiter unterhalten. Doch die Zeit fliegt mir davon. Mein Mann hat schon den Frühstückstisch gedeckt. Leider haben wir keine Würmer mehr im Haus. Ich hoffe, dass ich noch welche finde. Wie Sie sehen habe ich ständig zu tun. Küsschen meine Teuerste. Man sieht sich. Auf Wiedersehen.«
So oder so ähnlich könnte sich das Ganze abspielen. Und da war auch noch die blöde Wildtaube, die mich schon seit dem Beginn der Ferien jeden Morgen um 6 Uhr aus dem Tiefschlaf gerissen hatte. Wenn ich könnte, würde ich sie am liebsten erschießen. Doch dazu fehlte mir die Handhabe. Eine Waffe hatte ich leider nicht,