White Moon. Leni Anderson

White Moon - Leni Anderson


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einen kurzen Moment lacht er auf, erlangt seine Fassung aber schnell zurück. Er nimmt einen letzten Schluck von seinem Kaffee und entsorgt den Becher im Mülleimer, der ein Stück von uns entfernt steht.

      „Chris, was ist hier los?“ Ich will es jetzt wissen. „Ehrlich, so langsam kann ich wieder klar denken und der Kaffee ist auch leer. Und, verdammt, bisher hast du nur noch mehr Fragen aufgeworfen als geklärt. Also entweder ...“

      „Hannah“, fällt er mir ins Wort und schau mich mit seinen unfassbar blauen Augen an. Fast augenblicklich fährt mein Adrenalin und meine ganze Wut und Verwirrung eine Stufe runter.

      „Das ist alles nicht so einfach so erklären. Ich wünschte, es wären andere Umstände, aber die Anwesenheit von Eric heute im All in hat alles verkompliziert. Ich weiß nicht genau, wo ich anfangen soll.“

      „Vielleicht ganz vorne? Oder mit einer plausiblen Erklärung bezüglich dieser Abgrenzung von diesem wir und ihr? Oder eurem Drang zum Jagen oder was auch immer?“

      Zugegeben, meine Stimme klingt etwas theatralisch, aber ich habe so langsam die Nase voll. Er faselt einen Scheiß vor sich hin, den ich einfach nicht länger ertragen mag. Ja, er ist heiß. Heißer als heiß! Aber wenn er sich nun doch als irrer Freak erweisen möchte, dann doch bitte jetzt gleich. Ich würde gerne nach Hause gehen. In einem Stück.

      Anstatt einer direkten Antwort hüllt sich Chris in Schweigen und schaut betreten zu Boden.

      Fuck. Dann halt nicht.

      Ich stoße mich vom Geländer ab und setze mich in Bewegung. Sanft greift er mein Handgelenk. Ich schaue auf.

      „Hannah, wir sind Vampire.“ Ernst spiegelt sich in seinen Augen.

      Ich starre ihn an. Für einen Moment schwanke ich zwischen hysterischen Lachanfall und Weglaufen. In meinem Kopf herrscht absolute Leere. Ich bin sprachlos. Mir bleibt nichts anderes, als in seine tiefen, blauen Augen zu starren.

      Er meinte es ernst.

       Heilige Scheiße!

      Panik erfüllt mich und mein Herz beginnt zu rasen. „Ich denke, ich sollte jetzt gehen.“

      „Willst du den Rest denn gar nicht hören?“ Ein unsicheres Lächeln umspielt seinen Mund.

      Nein. Ich denke nicht, dass ich den Rest hören will, und schüttle den Kopf.

      „Mach's gut, Chris.“ Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, marschiere ich los.

      Der Panik weicht Empörung. In mir steigt eine Wut auf, die ich kaum in Worte fassen kann. Er glaubte doch wohl nicht allen Ernstes, dass ich ihm das abkaufe? Vampire? Hier in der Hauptstadt? Unter uns? Absolut lächerlich!

      Strammen Schrittes mache ich mich in die entgegengesetzte Richtung auf, um mir ein Taxi zu rufen. Zu Hause habe ich eine nette Flasche Chardonnay im Kühlschrank, die den Abend möglicherweise noch retten könnte.

      Und Hailey. Ich muss dringend Hailey anrufen. Himmel, vielleicht war ihr was passiert?

      „Hailey war heute nicht im Club“, höre ich Chris hinter mir. „Letzte Woche wart ihr zu zweit da, aber heute warst du alleine.“

      Ich halte inne.

      „Und Chardonnay ist zwar nicht mein Lieblingswein, aber er ist für einen Weißen ganz passabel.“

      Was zum ...

      Langsam drehe ich mich zu ihm um. Ich starre ihn mit offenem Mund an. „Woher ...“, flüstere ich. Mehr bekomme ich nicht raus. Wie konnte er das wissen?

      „Bitte, Hannah, lass mich die Sache weiter erklären. Aber nicht hier.“

      Lange starren wir uns an. Unfähig, uns zu rühren. Ich weiß, dass es von mir abhängt. Weiß, dass er mich gehen lassen würde, wenn ich darauf bestünde. Aber etwas in mir schreit danach, zu bleiben und ihn anzuhören. Etwas in mir sagt, dass ich ihm zuhören muss. Um zu verstehen. Etwas in mir erinnert mich daran, dass ich ans Schicksal glaube.

      Ich nicke.

      Vorsichtigen Schrittes kommt er auf mich zu. „Danke“, haucht er mir auf die Haare und drückt zaghaft meine Hand. Ohne ein Wort zu sagen, verlassen wir die Brücke.

      Mein Kopf ist wie leer gefegt. Zurückgeblieben ist nur ein Gefühl von ... Wärme? Vertrauen?

      Himmel ... Was war das nur für ein Serum?

      Chris führt mich zu einer kleinen Bar namens Ben & Tiger‘s. In einer der dunkleren Ecken der spärlich besuchten Bar nehmen wir Platz. Chris ordert beim Barkeeper Getränke und setzt sich anschließend zu mir.

      Ich bereue es erneut zutiefst, mein Handy nicht mitgenommen zu haben. Wie gerne hätte ich jetzt Hailey angerufen. Einfach nur, um zu hören, dass sie wirklich nicht im Club gewesen war und Chris tatsächlich die Wahrheit gesagt hatte.

      Der Barkeeper kommt und stellt uns zwei Gläser auf den Tisch. Fragend schaue ich Chris an.

      „Nein, keine Sorge. Die sind clean.“ Er zwinkert mir zu und nimmt einen Schluck. Bevor ich länger darüber nachdenke, nehme ich ebenfalls einen tiefen Zug aus meinem Glas.

      Was ich augenblicklich bereue.

      „Verdammt“, bringe ich hustend hervor. Schon wieder Gin. Aber dieses Mal in einem eher unüblichen Mischungsverhältnis. Mein Rachen brennt.

      „Gut, oder?“

      Ich nicke zustimmend „Fantastisch.“ Meine Antwort trieft geradezu von Sarkasmus. Ich bedeute dem Barkeeper, uns noch etwas Antialkoholisches zu bringen, und freue mich über das Wasser, das kurze Zeit später vor mir auf dem Tisch steht.

      Chris schmunzelt und prostet mir provozierend zu.

      „Also?“, fange ich schließlich an. Noch nie ist es mir so schwer gefallen, jemanden etwas zu fragen, das mir gleichzeitig so unfassbar lächerlich vorkommt. Die Röte schießt mir ins Gesicht. „Bist du so ne Art Show-Mentalist oder wie kann es sein, dass du ständig weißt, was ich denke?“

      Chris schmunzelt. „Nein, ich bin kein Mentalist.“ Dann werden seine Züge wieder ernst. „Ich bin ein Vampir und kann deine Gedanken lesen.“

      Ich schlucke.

      „Und das funktioniert nur“, fährt er fort, „weil du meine Seelenpartnerin bist.“

      „Seelenpartnerin?“ Die Antwort überrascht mich. „Also, ich hab schon von Seelenpartnerschaft gehört, dachte aber immer, das ist sowas wie beste Freunde sein oder so. Und, dass man sich dafür ja auch kennen muss. Was bei uns beiden ja wohl kaum zutrifft.“

      „Du kennst mich schon“, erwidert er. „Zumindest für einen Abend. So lange bis sie dein Gedächtnis wieder löschen. Was zugegebenermaßen ziemlich oft in letzter Zeit vorkam ...“ Er nimmt einen großen Schluck von seinem Drink.

      Ich verschränke die Arme vor der Brust. „Ja, das sagtest du bereits.“ Meine Gedanken wirbeln und ich brauche einen Moment, um zu realisieren, dass ...

      „Wie lange komme ich schon ins All in, ohne dass ich mich daran erinnern kann?“

      Chris schaut mir direkt in die Augen. „Seit etwa zehn Wochen.“

      Fuck.

      „Seit etwa zehn Wochen?“, bringe ich fassungslos hervor. „Himmel, was für ein Zeug hab ich denn bitte getrunken, dass ich mich nicht mehr daran erinnern kann?“

      „Wir nennen es Gedächtnisserum. Du hast heute Abend einen Stempel bekommen, richtig?“

      Verstohlen werfe ich einen Blick auf mein Handgelenk. Ich nicke zustimmend.

      „Nun, in der Stempelfarbe befinden sich Transmitter, die aktiviert werden, sobald ihr das Gedächtnisserum mit eurem ersten Drink zu euch nehmt. Beim Hinausgehen werden eure Stempel vorne wie eine Art Barcode gescannt. Und am nächsten Tag, tadda, erinnert ihr


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