Die Schatten von Paradell. Sebastian Müller

Die Schatten von Paradell - Sebastian Müller


Скачать книгу
Lindner war eine kleine, etwas untersetzte Frau mit einem herzerwärmenden Lächeln. Sie sah aus, als würde sie in jeder Klischeewerbung für Backwaren die Hausfrau mit der Schürze spielen, die den frisch gebackenen duftenden Kuchen ins Fenster zum Abkühlen stellte.

      Sie setzte sich neben ihren Sohn aufs Bett und nahm ihn in den Arm. „Mögen alle deine Wünsche in Erfüllung gehen, mein Liebling.“

      Ben biss behutsam in den Kuchen, um das Bett nicht vollzukrümeln, und das Lächeln wurde wieder breiter.

      Bens Vater Thomas, ein mittelgroßer Mann mit runder Brille, dessen Haare bereits früh licht geworden waren, trat ans Bett und legte die Hand auf Bens Schulter. „Na dann mein Sohn, möchtest du weiterschlafen oder kommst du zum Frühstück?“ Ben antwortete mit einem Zwinkern. „Ich weiß nicht, lohnt es sich, das gemütliche Bett zu verlassen?“

      „Hm, da steht ein Tisch mit komischen Kisten, die in allerlei grellbuntes Papier gewickelt sind. Ich habe keine Ahnung, was der Quatsch soll, aber wenn du dir das anschauen willst, müsstest du leider aus dem warmen Bett kommen“, sagte Thomas.

      Da stand Ben schnell auf und sagte: „Na das weckt meine Neugier, wer hat sich denn da einen Scherz erlaubt und solch irres Zeug in unserer Wohnung platziert?“

      Sie lachten alle drei vergnügt und gingen durch den Flur in das Esszimmer. Und tatsächlich, ein erheblicher Berg Geschenke war auf dem Esstisch aufgebaut worden und davor stand eine große leckere Torte mit viel Schokolade, auf der fünfzehn Kerzen brannten.

      „Gut, jetzt hast du ja geübt. Nun mal los und alle auf einmal auspusten“, sagte Thomas zu seinem Sohn.

      Ben trat an den Tisch und dachte wieder an Paradell. Er schloss die Augen und atmete tief ein. Da erschien vor seinem inneren Auge ein Bild von Angrowin aus seiner Erinnerung. Er hielt kurz inne und dachte: „Wenn ich sie und ihre Welt nur noch einmal wiedersehen könnte.“ Da pustete er mit aller Kraft über die Kerzen und schaffte es, sie alle zu löschen.

      Thomas und Clara klatschten erfreut und klopften ihrem Sohn auf die Schulter. „Gut gemacht Schatz, was auch immer du dir gewünscht hast, muss ja jetzt in Erfüllung gehen“, sagte seine Mutter.

      Ben schaute sie an und sagte: „Na dann drücken wir die Daumen.“ Dabei dachte er: „Wenn du wüsstest, aber das würdest du mir sowieso nicht glauben.“

      – 2 –

      Als das Frühstück beendet war, ging Ben ins Bad und begann sich für die bevorstehende Feier vorzubereiten.

      Seine Eltern hatten in der Bowlinghalle die einzelne, für private Feiern abgetrennte Bahn gemietet. Sie wurde für den Geburtstag bunt geschmückt. Vorher war es geplant, dass sich alle im zur Bowlinghalle gehörenden Restaurant zum Essen trafen.

      Um elf Uhr, eine halbe Stunde vor der Abfahrt, stand Ben vor seinem Kleiderschrank. Er sah unschlüssig hinein. Dann griff er, mehr aus Reflex als mit einer wirklichen bewussten Entscheidung, zu seinem Lieblings-T-Shirt und den ausgeblichenen Jeans, die er immer in der Schule trug. Legte sie auf das Bett und schaute erneut in den Schrank. Im obersten Fach lag Stevies Basecap mit der Mickey Maus. Er griff danach und schaute es verträumt an.

      „Nein heute nicht. Es tut mir leid Stevie, Simon hat recht. Heute bleibt die Mütze im Schrank“, sagte Ben in das leere Zimmer hinein. Er legte das Cappi zurück und stand selbstbewusster, mit voller Energie, vor dem Schrank und schaute in den Spiegel. „Langsam wird es Zeit, erwachsener zu werden, Ben“, sagte er zu seinem Spiegelbild und lächelte.

      Er suchte nach dem Poloshirt, das er sich vor einem Monat mit seiner Mum ausgesucht hatte, was er bisher nie angezogen hatte. Als er es fand, nahm er noch die neue moderne Jeans dazu und zog beides an. Und tatsächlich. Er sah wieder in den Spiegel und war äußerst zufrieden, was er da sah. Er wirkte gleich zwei Jahre älter. Er zwinkerte seinem Spiegelbild zu. Im Augenwinkel sah er etwas hinter sich im Spiegel, als wäre da jemand in seinem Zimmer gewesen. Erschreckt drehte er sich um, aber da war niemand. Er war allein im Zimmer.

      „Hallo?“, fragte er verunsichert. Doch es antwortete niemand. Ben schüttelte den Kopf, um ihn wieder frei zu bekommen. Er schaute im Spiegel auf das darin sichtbare Aquarium. „Sicherlich nur die Bewegung der Fische“, versicherte er sich in Gedanken. Er verstaute die alten Sachen im Schrank und ging ins Bad. Dann legte er seine Brille zur Seite und kämmte sich die Haare. Sie waren stets zerzaust. An diesem Tag benutzte er jedoch Kamm und Haarwachs. Nachdem er seine Brille wieder aufhatte, fühlte er sich bereit für den Tag.

      Er ging zu seinen Eltern ins Wohnzimmer. Als seine Mutter ihn bemerkte, weiteten sich ihre Augen vor Erstaunen. „Oh Schatz, du hast ja die neuen Sachen angezogen. Du siehst großartig aus.“ Sein Vater nickte anerkennend und sagte: „Na dann können wir ja los. Wann kommen denn die Winters?“

      Die Familie Winter wohnte im Haus unter ihnen und Ben war von klein auf mit deren Sohn Franz befreundet gewesen. Er war auch zur Geburtstagsfeier eingeladen. Clara und Thomas hatten seine Eltern gefragt, ob sie mitkommen wollten. Dann hätten sie jemanden, mit dem sie den Nachmittag verbringen könnten, und würden die Kinder in Ruhe unter sich lassen.

      Zwei Minuten später klingelte es und die Winters standen abfahrbereit vor der Tür, als Thomas sie öffnete. „Wo ist denn das Geburtstagskind?“, fragte Andreas, der Vater von Franz. „Da bin ich schon“, kam es aus der Wohnung und Ben trat neben seinen Vater. „Alles Gute zum Geburtstag Junge. Fünfzehn Jahre. Mann, euer Kleiner wird erwachsen, was Thomas?“

      Lachend antwortete er: „Ja, man will es gar nicht wahrhaben, bis es so weit ist.“

      Sie fuhren alle zur Bowlinghalle. Während sie auf den Parkplatz abbogen, sah Ben ein Mädchen, das mit einem bunten Päckchen in der Hand allein am Rand stand. Es war Marie. Als sie das Auto der Lindners erkannte, winkte sie ihnen zu.

      Ben stieg aus und rannte zu ihr. „Hi Marie, schön dass du da bist. Wartest du schon lange?“

      „Nein nein, nur ein paar Minuten. Alles Gute zum Geburtstag Ben“, sagte sie und lächelte ihn an. Dann schaute sie verlegen auf ihre Füße und sah dabei das Geschenk an, das sie in der Hand hielt. „Ah ja, ich habe dir auch etwas mitgebracht. Ist nur eine Kleinigkeit. Aber ich habe es selbst gemacht.“ Ihre Gesichtsfarbe verschob sich deutlich in Richtung rot und sie drückte Ben das Päckchen in die Hand. „Vielen Dank Marie“, sagte Ben und stand unbeholfen da. Dann umarmte er sie doch noch kurz und sie gingen gemeinsam rein.

      Drinnen war es ruhig, da mittags nicht viele Bowler in der Halle waren. Momentan interessierten sie sich aber noch nicht für die Bowlingbahnen. Sie gingen an ihnen vorbei zu dem Restaurant am anderen Ende der Halle.

      „Hallo Miss, Ben Lindner, wir haben einen Tisch reserviert“, sprach Ben eine Kellnerin an. Sie drehte sich um und erkannte ihn. „Oh hallo, du musst das Geburtstagskind sein. Alles Gute. Kommt, euer Tisch ist der da hinten in der Ecke.“

      Ben und Marie setzten sich und die anderen kamen kurz darauf dazu. „Nun Marie, dann schauen wir doch mal, was ich da von dir bekommen habe“, sagte Ben. Er packte das Geschenk behutsam aus und achtete darauf, das Papier nicht zu zerreißen.

      „Ein Buch“, sagte Ben, unsicher was er davon halten sollte. „Memories steht darauf. Was ist das?“

      Marie, gleich wieder mehr rot im Gesicht, antwortete: „Na Erinnerungen. Ich habe ein Album gemacht, das alle Bilder enthält, die ich von uns finden konnte. Also von Simon, Lukas, dir und mir. Ach ja und von Tamara auf den letzten Seiten auch. Da sind all unsere Erlebnisse aus den letzten Jahren drin. Es ist also eine Art Freundschaftsbuch.“

      Ben wusste nicht, was er sagen sollte. Er war viel zu sehr gerührt und blättert im Buch, um darüber hinwegzutäuschen. Als er doch noch seine Stimme wiederfand, war sie zwar brüchig, aber er schaffte es, zu sagen: „Oh Marie, vielen lieben Dank dir. Das ist so großartig.“ Ohne darüber nachzudenken, schloss er sie in die Arme und drückt sie fest an sich. Marie war vollkommen überrascht und verkrampft. Dann ließ sie locker und lächelte über das ganze Gesicht. „Sehr gern Ben. Ich hatte selbst so viel Freude beim Erstellen und Erinnern. Ihr seid einfach


Скачать книгу