Die Schatten von Paradell. Sebastian Müller

Die Schatten von Paradell - Sebastian Müller


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antwortete Lukas, ohne seinen Vater anzusehen. „In der Kirche ist es zu jeder Jahreszeit kühl, im Sommer wie im Winter“, konterte Christian. „Oder ihr könntet die Ferien sinnvoll nutzen und etwas für das Allgemeinwohl tun.“

      Martha versuchte, das Ganze zu beruhigen, und sagte: „Na, setz dich erst mal und wir essen.“ Sie füllte die Speisen auf und Lukas wünschte: „Guten Appetit.“ Doch das reichte seinem Vater natürlich nicht. „Nichts da, sag das Tischgebet für uns Sohn.“ Lukas tat das anstandslos wie befohlen. Diskutieren brachte dabei schon nichts, wenn er gute Laune hatte.

      – 2 –

      In der folgenden Ruhe, während alle still ihr Essen zu sich nahmen, hörte man gedämpft das Küchenradio vom Tresen. Die Nachrichten liefen gerade. „Und nun zu den Lokalnews“, sagte der Moderator. „Leider ist es heute auf dem Rockfestival in der Arena am Flughafen zu einer Tragödie gekommen. Eine größere Metallkonstruktion am Rand der Bühne ist aus noch ungeklärter Ursache zusammengekracht und auf die Zuschauer in vorderster Reihe gestürzt. Zum Glück wurde niemand getötet, jedoch gab es drei Schwer- und sechs Leichtverletzte. Das Konzert wurde umgehend abgebrochen.“

      „Na da siehst du es, Lukas. Das ist die gerechte göttliche Strafe für diese Sünder. Das ist es, was man erhält für einen ungläubigen Lebensweg, wie der von deinem Freund Simon.“

      Für gewöhnlich schaffte es Lukas, es zu ignorieren und wegzuhören, wenn sein Vater sprach, aber immer, wenn er von seinen Freunden sprach, kochte es in ihm hoch. Sein Kopf lief rot an und schließlich entglitt ihm seine Beherrschung. Wider besseres Wissen widersprach er seinem Vater: „Ich dachte, Gott ist gnädig und beschützt die Menschen. Ist das nicht seine Aufgabe?“

      „Seine Aufgabe?“, stieß sein Vater entsetzt hervor. „Er hat keine Aufgaben. Er ist allmächtig und er beschützt dich nur, wenn du dich an seine Regeln hältst und ehrfürchtig sowie fromm durchs Leben gehst. Bist du aber ein Sünder und führst ein verlottertes Leben, ohne dafür Buße zu tun oder zu Gott zu beten, dann bestraft er dich dafür mit all seiner Macht. Und er tut recht daran.“

      Lukas antwortete kleinlaut: „Wenn jemand das Gesetz bricht und zum Beispiel jemand anderem Schaden zufügt, soll er das machen. Das verstehe ich vollkommen. Aber Tod und Verletzung dafür, dass man Rockmusik hört. Das ist in meinen Augen maßlos übertrieben.“

      Da platzte seinem Vater erwartungsgemäß der Kragen. „Da haben wir es. Der Einfluss deiner Freunde ist ja schlimmer, als ich dachte. Morgen bewegst du deinen winzigen Hintern in die Kirche, mein Sohn und keinerlei Widerrede. Ich lasse es nicht zu, dass du deine Seele verdammst. Und jetzt gehst du sofort auf dein Zimmer. Kein Computer oder Fernsehen da oben. Lies lieber was Ordentliches. Nach diesen Äußerungen wäre die Bibel angebracht.“

      Wortlos stand Lukas auf und verließ die Küche. Er hielt es sowieso nicht länger mit seinem Vater in einem Raum aus. Ihm war klar, wenn er weiter diskutiert hätte, hätte das wie gestern geendet und sein Vater würde sich vollständig vergessen. Da hatte er sich dafür eine Ohrfeige eingefangen, die sich gewaschen hatte, und das hatte er nun nicht erneut vor.

      Lukas stürmte in sein Zimmer nach oben. Die Wohnung, in der er aufgewachsen war, war äußerst geräumig und erstreckte sich über zwei Stockwerke des gepflegten Altbaus. Die Deckenhöhe war gewaltig in allen Zimmern und reich mit Stuck verziert. Sein Zimmer war hochwertig eingerichtet, aber nicht übermäßig prunkvoll wie der Rest der Wohnung.

      Sein Vater war gut als Anwalt und er hätte es sehr weit gebracht, in einer normalen Kanzlei. Aber er hatte den Weg des Dienstes an Gott gewählt und war anscheinend der Einzige in seiner Kanzlei, der das selbstlos auf sich nahm. Nie hätte er eine Entscheidung für seinen eigenen Gewinn getroffen und wenn ausnahmsweise mehr raussprang, steckte er das in ein weiteres Kirchenprojekt.

      Darüber beschwerte sich Lukas nicht. Seine Familie hatte ein gutes Einkommen und es fehlte ihnen an nichts. Jedoch dieser unbändige Hass seines Vaters gegenüber allen, die er als Ungläubige ansah, war es, was ihn stets zur Verzweiflung brachte.

      „Sicher erhält Gott keine Aufgaben. Von wem auch? Nennen wir es simpel Verpflichtung gegenüber seiner Schöpfung. Dieselbe, die Eltern gegenüber ‚ihrer Schöpfung‘, ihren Kinder, haben.“

      – 3 –

      Am nächsten Tag machte sich Lukas keine Illusionen, dass sein Vater das mit der Strafe vergessen hatte. Der Kirchenbesuch war in Christians Augen logischerweise niemals eine Strafe.

      Alle drei zogen sich passend an, um zusammen in die Kirche zu gehen. Bereits bei der Kleidung fing die Gottesgefälligkeit an, wie sie Lukas’ Vater verstand. Ein ausgeleiertes T-Shirt oder gar eine Jogginghose wäre ihm niemals in den Sinn gekommen und so erzog er seinen Sohn. Lukas dachte: „Komisch, dass ich mit Tamara kleidungsmäßig auf einer Wellenlänge liege, aber aus gegensätzlichen Gründen. Ich werde nahezu gezwungen und sie trägt es aus Trotz, um sich von ihren Eltern abzusetzen, die in den meisten Belangen das krasse Gegenteil meiner Eltern sind. Bis auf den Hass auf die, die anders sind. Tamara war stets selbstbewusster als ich und widersetzt sich ihren Eltern häufiger. Leider mit dem erwartbaren Ergebnis.“

      Die Kirche lag nicht weit entfernt und darum liefen sie das Stück zu Fuß. „Musst du denn heute nicht arbeiten Dad?“, fragte Lukas.

      „Ich werde später arbeiten, aber das ist heute von größerer Bedeutung. Außerdem, ist es Teil meiner Arbeit, Gott und seinen Schäfchen zu helfen. Speziell wenn sie, wie du mein Sohn, vom Weg abgekommen sind.“

      Christian arbeitete oftmals von zu Haus in seinem Arbeitszimmer und hatte die Möglichkeit, sich seine Zeit frei einzuteilen.

      Martha war von Beruf Hausfrau. Dennoch unterstützte sie ihren Mann bei diversen Aufgaben.

      Nachdem die Familie Pfeiffer ihr Haus verlassen hatte, folgten sie der kurzen Allee-artigen Straße, in der sie wohnten. Nach ein paar hundert Metern trafen sie auf die Hauptstraße und man fühlte sich direkt wie in einer anderen Welt. Keine Bäume boten Schutz vor der heißen blendenden Sommersonne und die Menschenmassen drängten sich auf dem breiten Gehweg. An der Kreuzung hupten die Autos, weil irgendwer nicht rasch genug abgebogen war oder Ähnliches. Alles und jeder wirkte übertrieben hektisch.

      Ein Stück weiter ihres Weges hatte sich eine größere Menschenmenge versammelt. Zwei Männer schienen aus unbekanntem Grund in Streit geraten zu sein, was diverse Schaulustige auf den Plan rief. Natürlich dachte niemand daran, die beiden Streithähne zu trennen. Im Gegenteil, viele von ihnen hatten ihr Handy gezückt und filmten das Geschehen eifrig.

      Die Ansammlung versperrte den ganzen Gehweg. Uninteressierte Passanten quetschten sich am Rand vorbei. Eine Frau mit Kinderwagen stand verzweifelt daneben und wusste nicht, wie sie weiterkommen sollte.

      Als sich die Pfeiffers näherten, erregte das Geschehen Christians Aufmerksamkeit. „Hey ihr da, was soll dieses Verhalten? Beherrscht euch doch!“, fuhr er die beiden von außerhalb der Menschenmenge an.

      Christian hatte mit seinen ein Meter neunzig eine massive, Eindruck erregende Statur. Er stürmte in die Menge und zerrte die beiden Streitenden auseinander. Er schrie sie an: „Wollt ihr wohl aufhören? Habt ihr denn keine Selbstachtung, euch hier als erwachsene Männer auf der Straße zu prügeln?

      Gott sieht das nicht gern. Habt ihr vor eure Seele für irgendwelche kindischen Kleinigkeiten zu verdammen?“, fragte er sie mit tadelndem Tonfall. „Jetzt übt euch in Reue und Vergebung. Betet zu Gott, dass er euch diese Entgleisung verzeiht.“

      Da kicherten einige der Umstehenden verhalten und viele filmten weiter mit ihren Handykameras. Christian realisierte dabei erst wieder, dass er die Menschenmenge um sich hatte. Dutzende Augenpaare beobachteten ihn interessiert. Das brachte ihn nur noch mehr zur Weißglut und er schaute die Schaulustigen mit böse funkelnden Augen an.

      Lukas beobachtete das Geschehen mit steigendem Unbehagen und schämte sich wie üblich für seinen Dad. Er bemerkte, wie ein spürbarer Luftzug kühl durch die Menschenmenge fuhr und das blendende Licht langsam verschwand. Christian schaute die Reihen der umstehenden Gesichter an, über die nun Schatten wanderten.

      Er


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