Die Schatten von Paradell. Sebastian Müller

Die Schatten von Paradell - Sebastian Müller


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Seele? Was hält Gott wohl von diesem Unsinn? Und darüber hinaus mit dem Handy draufhalten. Ihr macht mich krank. Alle miteinander.“ Er spuckte vor den Leuten auf den Boden, um seiner Aussage Nachdruck zu verleihen.

      – 4 –

      Auf der Straße war der Verkehr abgeflaut und Lukas bemerkte, wie die Frau mit dem Kinderwagen ihr Glück versuchte, um an der Ansammlung vorbeizukommen. Sie quetschte sich halb auf der Straße vorbei. Ein stärkerer Windzug zerrte am Wagen, als hätte er vorgehabt sie am Weiterkommen zu hindern. Die Schatten verdichteten sich und schienen sich unnatürlich zu bewegen.

      Christian hielt weiter die Streitenden gepackt und fuhr in seiner Rage fort: „Keiner von euch kommt auf die Idee seinen Mund aufzumachen und dem Unsinn Einhalt zu gebieten. Wenn ihr zu feige seid, geht weiter und starrt hier nicht in der Gegend umher!“

      Da antwortete ihm ein vorwitziger junger Mann aus der Menge: „Ihre Tirade ist viel zu gut, um die zu verpassen. Das bringt wunderbare Klickzahlen im Social Media. Kommen Sie, lächeln Sie für die Fans.“ Er hielt sein Handy dichter an das Geschehen.

      Da ließ Christian schlagartig die beiden Streitenden los und sprang nach vorn auf den Kerl zu. Alle Umstehenden waren überrascht von dieser flinken Bewegung und drängten weiter auseinander. Christian packte den Burschen am Kragen und schlug ihm mit der anderen Hand das Handy weg. „Sie halten sich wohl für besonders witzig was? Ihnen werde ich zeigen, was es heißt, sich über mich lustig zu machen, während ich hier gottesfürchtig des Herrn Arbeit erledige.“

      Lukas dachte: „Nein Dad, tu es nicht. Lass ihn einfach los.“

      Doch Christian stieß den Mann von sich, in Richtung der Menschen, die sich am dichtesten an der Hauptstraße drängten. Hinter dem Taumelnden sah Lukas einen enormen Schatten, der aber eine physischere Form angenommen hatte, wie man es von einem Schatten gewohnt ist. Im Fallen durchbrach und verwirbelte er ihn wie einen Nebelschleier.

      Erschreckt flüchteten die Menschen, auf die er zufiel, nach hinten auf die Straße zu. Einer aus der hintersten Reihe stolperte am Bordstein und stieß heftig gegen den Kinderwagen der Frau, die dort vorbeidrängte.

      Auf der Hauptstraße fuhr ein LKW der städtischen Müllabfuhr. Der Fahrer hörte dröhnend Musik und war unaufmerksam. Er hatte seine Schicht beendet und war auf dem Weg zurück ins Depot. Da kreisten seine Gedanken hauptsächlich um das Feierabendbier, das er sich gleich genehmigen würde.

      Lukas sah das Unheil kommen und versuchte zu rufen. Doch die Luft war ihm wie abgeschnürt, und alles wurde konstant düsterer. Die Welt schien sich, wie in Zeitlupe, um ihn zu bewegen. Auf einmal war da Licht. Um die Frau und ihren Kinderwagen herum schienen die Schatten urplötzlich zu leuchten. Filigrane, blaue, geschwungene Linien schienen sichtbar auf ihnen. Sie wurden so grell, dass sie Lukas blendeten.

      Dann ertönte in seinem Kopf eine wunderschöne, sanfte, unwirkliche Melodie und alle Schatten bewegten sich mit einem heftigen Ruck.

      Die Frau mit Kinderwagen wurde durch eine unnatürlichen Luftstoß zurück Richtung Bordstein geschoben. Sie fiel dabei auf die Seite und verlor eine ihrer Sandalen, die auf der Straße zurückblieb. Der Kinderwagen kam jedoch aufrecht und in Sicherheit auf dem Gehweg zum Stehen.

      Lukas traute seinen Augen kaum. Er hatte aber keine Zeit, sich lange zu wundern. Die Schatten verschwanden, so unvermittelt wie sie gekommen waren und mit ihnen das blaue Licht. Die Welt um ihn herum beschleunigte wieder auf das normale Tempo und mit einem Schlag entspannte sich der Druck auf seiner Brust und er atmete schwer aus.

      Der Müllwagen auf der Hauptstraße rauschte heran und brauste an der Szene vorbei. Dabei rollte er über die einzelne Sandale auf der Straße und zerfetzte sie. Der Fahrer sang weiter das Lied aus dem Radio, ohne zu merken, was beinahe passiert wäre.

      „Woah, was war denn das?“, fragte Lukas mit weit aufgerissenen Augen. Aber keiner hörte ihn. Alle hatten ausschließlich Augen für die Frau, die da neben ihrem Kinderwagen auf dem Gehweg lag. Wieder gafften sie hemmungslos, ohne sich zu bewegen.

      Christian jedoch löste sich aus dem Schreck und stieß die Anderen beiseite. Er ging auf die Frau zu und sagte zu ihr: „Geht es Ihnen gut? Haben Sie sich verletzt? Lady, hören Sie mich?“ Sie drehte ihm den Kopf zu und der Schock war deutlich in ihren Augen zu erkennen. Christian verkündete: „Sie sind gesegnet. Gott wacht über Sie und Ihr Kind. Er hat Sie vor einem enormen Unheil bewahrt. Beten Sie und danken ihm für diese Gnade.“

      Die Frau schaute verwirrt und sagte: „Was? Keine Ahnung was Sie wollen, aber Danke für Ihr Mitgefühl. Es geht schon wieder. Das war nur der Schreck. Würden Sie so freundlich sein und mir aufhelfen?“

      Christian antwortete: „Aber selbstverständlich Madam. Kommen Sie und nehmen Sie meine Hand.“

      Während er ihr aufhalf, fiel der Schock langsam von den Passanten ab und alle redeten aufgebracht durcheinander. Einer verkündete in Richtung der Frau: „Ein Schutzengel. Mann, das war mehr als Glück. Ihr Schutzengel hat heute Überstunden geschoben. Wahnsinn.“

      Als sie wieder aufrecht stand, schaute sie zuerst nach ihrem Baby. Aber den Kleinen schienen der Ruck und der aufbrandende Trubel nicht gestört gehabt zu haben. Er döste friedlich weiter. Erleichtert wendete sie sich wieder Christian zu. „Ich weiß nicht, es fühlte sich wie eine starke Windböe an, die mich umgehauen hat. Es war also schieres unfassbares Glück.“

      „Pah, Glück. Das reden sich alle ein. Es gibt kein Glück. Gott hat Ihnen die Hand gereicht und Ihr Leben bewahrt. Seien Sie ihm dankbar dafür. Sie wollen doch nicht, dass er sich von Ihnen abwendet. Beim nächsten Vorfall geht es nicht mehr so glimpflich für Sie aus.“

      Sie trat einen Schritt von ihm zurück. „Mein Herr, erneut vielen Dank für Ihre Hilfe. Ihren Glauben möchte ich Ihnen nicht nehmen, aber bitte lassen Sie mir meinen. Dann reden wir auch nicht darüber, inwiefern Sie an der Situation mit Ihrem rüden Verhalten Anteil hatten. Einen schönen Tag wünsche ich Ihnen.“

      Die Frau erfasste wieder den Griff ihres Kinderwagens und schob diesen auf dem Gehweg weiter von der Straße weg. Die umstehenden Schaulustigen räumten ihr bereitwillig den Platz und sie war verschwunden.

      Christian schaute in die zahllosen Gesichter, die ihn anstarrten. „Hört endlich auf zu gaffen. Es gibt nichts mehr zu sehen. Ich habe hier nur geholfen, was keiner von euch behaupten kann. Für euch würde Gott niemals solch ein Wunder vollbringen wie für diese Frau. Sie wird das schon irgendwann einsehen.“

      An seine Familie gewandt rief er: „Martha, Lukas, kommt, wir gehen jetzt.“

      Sie hatten ein paar Meter zwischen sich und die sich langsam auflösende, Menschenmenge gebracht, da konnte Lukas nicht mehr an sich halten und fragte: „Mum, Dad, habt ihr auch die Schatten gesehen und das komische blaue Licht?“

      Seine Mutter antwortete: „Was? Wovon redest du denn Lukas?“

      „Na die ganzen Schatten, die auf die Frau in Gefahr zustürmten und sie von der Straße schubsten, als die Musik losging?“

      Sein Vater schaute ihn verwundert an. „Was soll dieser Unsinn? Gott hat sie gerettet. Sagst du da, du hast Gott gesehen, mein Sohn?“

      Lukas schüttelte den Kopf. „Nein, also ich weiß nicht, was ich gesehen habe. Das Wort des Passanten finde ich passender. Schutzengel. So würde ich es nennen. Was es auch war, es hat sie gerettet. Mum, was hast du gesehen?“

      „Nun, der Wind hat aufgefrischt und ihr buntes Kleid blähte sich stark um sie herum auf. Das hat sie, wie es scheint, zur Seite umgeworfen“, antwortete Martha, wirkte dabei jedoch unsicher. „Natürlichen Ursprungs sah es nicht aus. Das gebe ich zu. Das war wohl wirklich eine göttliche Intervention. Preiset den Herrn.“

      – 5 –

      Als sie endlich in der Kirche ankamen, hatten sie sich alle drei wieder beruhigt. Nur Lukas verblieb gedankenversunken. Er grübelte darüber nach, was das vorhin zu bedeuten hatte und warum niemand anderes gesehen hat, was er gesehen hat. Vor allem dachte er, was das mit dem Erlebnis im Wald vor zwei Tagen zu tun gehabt hat. Ständig schwirrte ihm dieser


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