Empörung, Revolte, Emotion. Группа авторов
vol. I: Principles of language use, Cambridge, Cambridge University Press, 1990.
Aufforderung und Emotion im DaF-Unterricht aus pragmatischer und didaktischer Sicht
Anne-Kathrin Minn & Nathalie Schnitzer (Université Bordeaux Montaigne & Aix-Marseille Université)
Aux jeunes, je dis: regardez autour de vous, vous y trouverez les thèmes qui justifient votre indignation – le traitement fait aux immigrés, aux sans-papiers, aux Roms. Vous trouverez des situations concrètes qui vous amènent à donner cours à une action citoyenne forte. Cherchez et vous trouverez!1
(Hessel 2010a: 16).
Abstract
„Hände waschen“, „Abstand halten“, „Maske tragen“ – in Krisenzeiten wie der aktuellen Corona-Pandemie stehen diverse Forderungen zum Einhalten von Hygienevorschriften auf der Tagesordnung, auf Twitter liegen Hashtags mit Appellen an den Gemeinsinn wie #BleibtZuhause oder #SocialDistancingNow im Trend. Die sanitären Maßnahmen der Gesundheitsbehörden stoßen auf heftigen Widerstand mancher Bürgerinnen und Bürger, die mit Forderungen wie „Corona-Diktatur stoppen“ oder „Maske weg“ gegen Einschränkungen ihrer Grundrechte lautstark protestieren. An diesem Beispiel wird ersichtlich, wie spannungsreich Aufforderungen und emotionale Zustände in manchen Kommunikationssituationen verknüpft sind, etwa wenn die Produktion der Aufforderung auf Empörung zurückzuführen ist. Der Beitrag setzt sich zum Ziel, das Wechselspiel von Emotion und Aufforderung aus pragmatischer und didaktischer Perspektive näher zu beleuchten. Dabei werden nicht nur sprachliche Merkmale und Realisierungsmöglichkeiten von Aufforderungen jenseits der „klassischen“ Imperativsätze betrachtet, sondern es wird auch der Frage nachgegangen, wie dieser wichtige Sprechakt im Sinne einer „lebensweltbezogenen“ Auffassung von Grammatik zum motivierenden Lerngegenstand eines aufgabenorientierten Fremdsprachenunterrichts werden kann. Am Beispiel eines in der Praxis mit französischen Studierenden erprobten, kompetenzorientierten Unterrichtsmodells im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie wird das grammatische Thema „Aufforderung“ in eine aktuelle, landeskundlich fundierte DaF-Einheit eingebettet. Darin erarbeiten die Lernenden zunächst den kommunikativen Kontext rund um den gesellschaftlichen Corona-Diskurs anhand authentischer Materialien, bevor sie sprachliche Merkmale emotionaler (Auf-)Forderungen rezipieren, analysieren und aus ihrer Sicht selbst kreativ anwenden. Damit zeigt der Beitrag auf, wie ein Thema, das an lebensnahe Diskurse anknüpft, gerade für fortgeschrittene Deutschlernende in besonderem Maße weiterführendes inhaltliches und sprachliches Lernpotential bietet.
1 Einleitung
In unserem täglichen Leben werden wir mit den unterschiedlichsten Aufforderungen konfrontiert, ohne dass es uns sonderlich auffällt oder gar stört. Kaum haben wir die Wohnung verlassen und wollen ins Freie, steht ein „Ziehen“-Aufkleber an der Eingangstür. Die Straße ist mit Werbeplakaten gesäumt, die uns zum Kauf von Konsumgütern anregen: „Sei frei für Momente in Fake-Fur oder Fleece. Shoppe Weihnachts-Outfits, die du liebst“. In den öffentlichen Verkehrsmitteln werden wir gebeten, uns vorschriftsgemäß zu verhalten: „Wollen Sie aussteigen? Bitte rechtzeitig Druckknopf betätigen“. In der Bibliothek einmal angekommen, können wir kaum einen Schritt machen, ohne von verbotenen Handlungen abgehalten zu werden: „Die Mitnahme von eingeschalteten Mobiltelefonen in die Lesesäle ist untersagt. Die Mitnahme des Garderobenschlüssels außer Haus ist nicht erlaubt. Das Reservieren von Leseplätzen in den Lesesälen ist nicht gestattet […]“ (Schild im Eingangsbereich der Österreichischen Nationalbibliothek)1.
Auch in der mündlichen Kommunikation sind Aufforderungen allgegenwärtig, ob wir sie bewusst zur Kenntnis nehmen oder nicht, und zwar aus dem einfachen Grund, dass es in fast jeder zwischenmenschlichen Situation einen Anlass gibt, sein Gegenüber verbal dazu bringen zu wollen, etwas zu tun oder zu lassen.
Ziel des Beitrags
Dass wir es in unserer von Normen und Vorschriften durchdrungenen Gesellschaft gewohnt sind, mit den verschiedensten mehr oder weniger ritualisierten Aufforderungen relativ emotionslos umzugehen, bedeutet noch lange nicht, dass Emotionen und Aufforderung nichts miteinander zu tun hätten. In diesem Beitrag setzen wir uns zum Ziel, das wechselseitige Verhältnis zwischen Emotionen und Aufforderung genauer zu beleuchten und einige Aufforderungsvarianten im Zusammenhang mit dem emotionalen Zustand der Gesprächsbeteiligten näher zu beleuchten: Werden in Aufforderungen Emotionen preisgegeben, bewusst eingesetzt bzw. intensiviert oder gar geweckt? Haben die unterschiedlichen Formen von Aufforderung mit dem emotionalen Zustand der sprechenden Person etwas zu tun? Welche Emotionen können wiederum bei der adressierten Person ausgelöst werden? Dabei sollen die Äußerungssituationen besondere Beachtung finden, in denen die Produktion der Aufforderung auf Empörung zurückzuführen ist. Wie werden diese Emotionen sprachlich umgesetzt? Gibt es hierfür bevorzugte sprachliche Merkmale?
Im empirischen Teil wollen wir uns mit der didaktischen Umsetzung der zuvor dargestellten Überlegungen zum Wechselspiel von Emotion und Aufforderung befassen. Ausgehend von einer Auswahl konkreter Kommunikationssituationen sollen Studierende über die prototypischen Imperativsätze hinaus mit der Pragmatik der Aufforderung vertraut gemacht werden und dadurch nicht nur ihre kommunikative Kompetenz erweitern, sondern auch eine andere, ‚lebensorientiertere‘ Auffassung von Grammatik entwickeln, in der Emotionen auch eine Rolle spielen.
2 Aufforderung und Emotion
Für Dieter Wunderlich „[sind] Aufforderungen wohl mit als die elementarsten Sprechhandlungen anzusehen“ (Wunderlich 1984: 100), für die es stammesgeschichtliche Vorformen gibt (wie Drohgeste, Warnruf, Lockruf). Aus psycholinguistischer Sicht kann Auffordern (engl. to request) „dadurch charakterisiert werden, dass in einer kommunikativen Situation seitens eines Sprechers der Versuch unternommen wird, einen (oder mehrere) Kommunikationspartner zu einer vom Sprecher intendierten Handlungsweise zu veranlassen“ (Graf/Schweizer 2003: 432 / siehe auch Herrmann 2003: 713). Nicht selten werden auch negative Aufforderungen formuliert, die die adressierte Person dazu bringen wollen, eine Handlung zu unterlassen oder bestimmte Zustände nicht zu akzeptieren (cf. Wunderlich 1984: 110–111).
Der direktive Sprechakt „Auffordern“ fungiert also als Oberbegriff für eine breite Palette von Sprechhandlungen: „Die Benennung ‚Aufforderung‘ ist […] in einem weiten Sinne zu verstehen, der neben Befehl, Bitte, Anordnung, Weisung, Ersuchen und Auftrag z.B. auch Ratschlag, Vorschlag, Erlaubniserteilung, Verbot, Anweisung und Instruktion/Anleitung einschließt“ (grammis / letzte Änderung am 18.09.2018)1.
Von der Emotion zur Sprache (und zurück)
Aus psycholinguistischer Sicht definiert Monika Schwarz-Friesel Emotionen als „interne und damit absolut subjektive Eigenschaften des Menschen […], die nicht direkt, sondern nur über ihre Ausdrucksmanifestationen beobachtbar sind“ (Schwarz-Friesel 2007: 44). Dabei keimen Angst, Freude, Traurigkeit, Wut usw. nicht spontan in der Tiefe unserer Psyche auf, sondern entstehen in der Interaktion mit anderen Menschen. Emotionen sind also nicht nur Elemente unseres privaten Innenlebens, von unserer Umwelt scharf getrennt. Sie sind vielmehr innere Reaktionen auf Impulse von außen, die uns so aufwühlen können, dass sie wiederum Auslöser für nicht sprachliche bzw. sprachliche Handlungen werden, die sich auf unsere Mitmenschen beziehen. Fiehler bezeichnet sie als „öffentliche Phänomene in sozialen Situationen interpersoneller Interaktion“ (1991: 11). Somit spielen Emotionen eine nicht zu unterschätzende Rolle in der sprachlichen Kommunikation, auch wenn das emotionale Erleben nicht explizit zum Thema der Interaktion gemacht wird, sondern sich allein in der Form des Ausdrucks manifestiert (cf. Fiehler 1991: 12).
Wenn wir uns zum Beispiel über private bzw. gesellschaftliche Missstände so sehr aufregen, dass Empörung in uns wächst, eine Emotion, „die sich an der Verletzung des Gerechtigkeitssinns entzündet […]“ (Millner/Oberreither/Straub 2015: 7), müssen wir irgendwann dem angestauten Unmut Luft machen. Die Empörungsenergien vieler können sich zu einem kollektiven Aufruhr verdichten, bei der konstruktive wie auch destruktive Kräfte freigesetzt