Empörung, Revolte, Emotion. Группа авторов
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Wie umfangreich die Palette der eingeführten Varianten sein soll, hängt vom Sprachniveau der Betroffenen ab und bleibt dem Ermessen der Lehrperson überlassen (siehe als mögliche Umsetzung Punkt (3) des Unterrichtsvorschlags im didaktischen Teil dieses Beitrags).
Aufforderungsvarianten werden gewöhnlich als „Ersatzformen“ des Imperativsatzes bezeichnet, ein Terminus, der dem Phänomen nicht ganz gerecht wird: „Aufforderungssätze dürfen nicht mit dem Sonderfall Imperativsatz gleichgesetzt werden. Aufforderungen können syntaktisch ganz unterschiedlich realisiert werden, Imperativsätze sind nur eine von vielen Möglichkeiten“ (Duden 4 2016: 904). Da die meisten Grammatiken aber semasiologisch (von der Form zum Inhalt) aufgebaut sind, führt die Formenvielfalt zu einer zersplitterten Darstellung dieses sprachlichen Phänomens. Der pragmatische Reichtum der Aufforderung, und damit auch die emotionale Komponente, wird jedoch erst wahrgenommen, wenn mehrere Ausdrucksweisen zur Auswahl stehen, andernfalls bleibt diese Dimension weitgehend unberücksichtigt. Die seltenen onomasiologischen Grammatiken, die von den Redeabsichten bzw. von den sprachlichen Inhalten zu den sprachlichen Mitteln ausgehen, widmen der Aufforderung auch viel mehr Aufmerksamkeit. Die Kommunikative Grammatik Deutsch als Fremdsprache verfügt über ein eigenes Kapitel „Aufforderungen“ (Engel/Tertel 1993: 64–74). Die Grammatik in Feldern, in zehn Kapitel („Felder“) unterteilt, widmet der Aufforderung ein ganzes Feld (Buscha et al. 1998: 239–294). Im Rahmen einer aufgabenorientierten Fremdsprachendidaktik bieten solche Grammatiken wertvolles Material für den Aufbau einer Unterrichtseinheit (siehe Teil 4 dieses Beitrags „Überlegungen zu einer Didaktik der Aufforderung“).
Im Folgenden wollen wir uns auf zwei Varianten mit sehr unterschiedlichen syntaktischen Merkmalen konzentrieren und ihr Verhältnis zur Emotion näher beleuchten: zum einen die Infinitivformen, in denen das (ungebeugte) Verb im Vordergrund steht, zum anderen die „Reduktionsformen“, bei denen gar kein Verb vorkommt. Beide Satzformen sind auf Transparenten (Spruchbändern auf Demonstrationen) sehr beliebt: „CORONA-DIKTATUR STOPPEN“5. „Maske weg“6. „Freiheit Grundrechte“7.
Aufforderungen im Infinitiv
Diese Formen haben im Deutschen eine besonders breite Palette von möglichen Anwendungen – von dem emotionslosen Vorschriftendeutsch bis zum emotionsgeladenen „Alarm-Infinitiv“. Aufforderungen im Infinitiv richten sich formal nicht an eine spezifische Person oder Gruppe und haben damit den Vorteil, dass sie sich grundsätzlich an alle wenden, die mit ihnen, sei es mündlich oder schriftlich, in Berührung kommen. Deshalb sind sie insbesondere in schriftlichen Kontexten mit längerer Gültigkeitsdauer besonders geeignet, um Vorschriften bzw. Anweisungen zum Ausdruck zu bringen: „Aufzug im Brandfall nicht benutzen“. „Bitte Ladefläche freihalten“.
Im Deutschen sind solche Konstruktionen aber auch in der mündlichen Kommunikation üblich, unter anderem, wenn es darum geht, jemanden vor einer akuten Gefahr zu warnen: Der Ausruf „Nicht essen!“ kann z.B. erfolgen, „wenn man an der Unterseite des Löffels beim Nachbarn am Tisch eine Wespe bemerkt“ (Albertsen 1970: 116). Der Auslöser der Aufforderung ist hier eindeutig die Angst vor dem lebensgefährlichen Stich im Mund oder Rachen. Im Gegensatz zum emotionslosen „Vorschriften-Infinitiv“, steht der „Alarm-Infinitiv“ ziemlich hoch auf der Emotionsskala. Bemerkenswerterweise ist diese Aufforderungsvariante im Französischen zwar im Schriftlichen bei Vorschriften auch üblich, aber nicht im Mündlichen und nicht bei konkreten, mehr oder weniger „akuten“ Situationen. So wäre z.B. die von den selbsternannten „Querdenkern“ geäußerte Forderung „Corona-Diktatur stoppen“ ins Französische nicht mit einer Infinitivform übersetzbar. Mögliche Äquivalente wären etwa: Stop / Non à la dictature du Coronavirus1.
Verblose Aufforderungen
Obwohl sie eine Handlung intendieren, brauchen Aufforderungen nicht unbedingt ein Verb, um als solche gedeutet zu werden. Sie können z.B. auf eine Nominalgruppe reduziert werden (mit oder ohne das Wort „bitte“ als Höflichkeitsmarker und Zeichen der Aufforderungsintention): „Einbau von Luftfiltern!“, „Flexible Prüfungsmodalitäten!“, „Pauschalverlängerung bei Prüfungsfristen!“ lauten z.B. Forderungen der Studierendenschaft der Universität Heidelberg vor dem Hintergrund der Corona-Krise.1 Diese kurz gefassten Aufforderungen reflektieren die große Unzufriedenheit der Studierenden in Anbetracht ihrer prekären Lage und sind ein dringender Appell an die Universitätsleitung – die sich vielleicht einen milderen Ton gewünscht hätte. Reduzierte Aufforderungen dieser Art können, je nachdem ob sie ritualisiert sind oder nicht, „als adäquat und nicht unhöflich angesehen werden (z.B. ‚Salat!‘ bei der Essensausgabe in der Mensa) – während dieselbe Konstruktion in einer weniger schematisierten Situation als unhöflich gelten würde“ (Graf/Schweizer 2003: 435). Der Umgang mit solchen Konstruktionen erfordert also ein gewisses Sprachgefühl und sollte von Nichtmuttersprachlern entsprechend geübt werden.
Bei verblosen Aufforderungen ist auch das Muster „Verbpartikel + Präpositionalgruppe“ besonders gut vertreten: „Ab ins Bett!“, „Raus aus dem Alltag!“, „Her mit dem Geld!“. Das Muster „Nominalgruppe + Verbpartikel“ scheint auch ziemlich produktiv zu sein: „Geld her!, Ausländer raus!“, „Bauch weg!“ (Bertrand 2019: 42). Diese knappen Wendungen sind für erfahrene Sprachbenutzerinnen und -benutzer leicht verständlich, da die Verbpartikeln einen wichtigen Hinweis auf die intendierte Handlung geben, sie lassen sich leicht einprägen und sind in vielen Kontexten aufzufinden, unter anderem in der Werbesprache: „Alltag raus, Österreich rein!“2. Die Dynamik und die Knappheit der Formulierung lassen keinen Platz für Zweifel, der zur Schau gestellte Enthusiasmus soll geradezu ansteckend wirken. Ob diese etwas reißerische Art, das Publikum anzuwerben, immer von Erfolg gekrönt ist, sei allerdings dahingestellt.
Im Rahmen des DaF-Unterrichts können diese reduzierten Formen allerdings Schwierigkeiten bereiten, insbesondere bei der Produktion, da sie eine sichere Kenntnis von trennbaren Verben und Verbpartikeln voraussetzen. Im frankophonen Kontext stellt sich außerdem die Frage der französischen Äquivalente für solche Sätze. Da das Französische im Unterschied zum Deutschen keine trennbaren Verbpartikeln besitzt, und erst recht keine, die auch ohne Verb auftreten könnten, gibt es für diese Wendungen keine direkte Entsprechung. Bei der Übersetzung ins Französische muss also eine Lösung von Fall zu Fall gefunden werden: „Hände weg!“/„Bas les pattes!“; „Her mit dem Geld!“/„Par ici la monnaie“, „Ab ins Bett“/„Au lit!“ (cf. Bertrand 2019: 51). Bei der Übersetzung ins Deutsche treten andere Schwierigkeiten auf: Mit dem Ausruf „La porte!“ kann nämlich sowohl „Tür auf!“ als auch „Tür zu!“ gemeint sein. Hier muss der Kontext herangezogen werden, um die Bedeutung zu klären. Fest steht, dass mit dem Gebrauch dieser Wendung eine gewisse Gereiztheit mitschwingt.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die verblosen Aufforderungsvarianten in ihrer Knappheit besonders gut geeignet sind, um starke Emotionen auszudrücken, die aus dem Sprechenden herauszubrechen scheinen. Ob dieser Emotionsausbruch spontan oder intentional geschieht, ist nicht immer leicht zu erkennen. Dabei können sich sowohl positive Emotionen wie Enthusiasmus, Begeisterung, Tatendrang als auch negative Emotionen wie Gereiztheit, Ärger, Wut manifestieren und die Intensität des direktiven Sprechakts verstärken.
4 Überlegungen zu einer Didaktik der Aufforderung
Wie wir aus pragmatischer Perspektive gesehen haben, sind Aufforderungen mehr als nur Imperativsätze und haben zahlreiche Realisierungsmöglichkeiten, wobei die Wahl der Formulierung zum Teil auf den emotionalen Zustand der Kommunikationsbeteiligten zurückzuführen ist. In ihrer Formvielfalt sind sie in der alltäglichen Kommunikation allgegenwärtig und in vielen Textsorten vertreten. Wie können die Lernenden das erkennen? Welche authentischen Materialien