Der Milliardär und der Mechaniker. Julian Guthrie

Der Milliardär und der Mechaniker - Julian Guthrie


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gemeinsam erreichen« müssten. Als Chambers sagte, dass »die Grenzen nur in der Vorstellungskraft existieren« und eine gefühlte Stunde über »einsam treibende Eisberge« sprach, rollte Tugsy mit den Augen. Erkelens zuckte zusammen.

      In der ersten Nacht im Pfadfinder-Camp war das Team in vier Gruppen mit jeweils 35 Leuten aufgeteilt worden: Rot, Blau, Gelb und Grün. Nachdem sie ihre Taschen in den Schlafbaracken zurückgelassen hatten, wurden die Teammitglieder aufgefordert, große Zelte aufzubauen, die am nächsten Tag gebraucht würden. Diese Aufgabe sollte sie vermutlich dazu animieren, von Beginn an als Team zu operieren. Den Teams wurde eine ganze Reihe weiterer Aufgaben gestellt, zu deren Bewältigung die Farbgruppen noch einmal in jeweils vier Teams unterteilt wurden. Als die erste Übung darin bestand, für diesen Tag einen Anführer zu wählen, war Tugsy klar, dass es direkt lustig losgehen würde. Er musste sich bemühen, nicht laut loszulachen, als der amerikanische Star Cayard und der neuseeländische Skipper und Taktiker Dickson um die Position rangen. Die Szene wirkte wie der Kampf zweier Jungs um ein neues Spielzeug. Dickson und Cayard, aber auch einige andere, bewarben sich im Cup-Team um die Skipper-Position. Die Situation erinnerte an die Zeit, in der sowohl Steve Young als auch Joe Montana für die San Francisco 49ers spielten. Doch Dickson und Cayard kamen in etwa so gut miteinander aus wie die Basketball-Stars Shaquille O’Neal und Kobe Bryant oder die Baseball-Legenden Barry Bonds und Jeff Kent. Nämlich gar nicht.

      Während der Übungen für mehr Teamgeist lief es schließlich darauf hinaus, dass Cayard sein Team führte. Sie bauten Brücken und arbeiteten daran, ihre Leute über Strickleitern und Felsen auf die andere Seite zu bringen. Erkelens schöpfte ein bisschen Mut, als er die Designer und Segler dabei beobachtete, wie sie gemeinsam am Lagerfeuer saßen oder im Pool Wasserball spielten. Was Erkelens aber nicht gesehen hatte – und erst jetzt im Bus nach und nach hörte –, waren die Grabenkämpfe, die in den Gruppen ausgebrochen waren. Sogar im Pool.

      Der Busvorfall bestätigte Erkelens’ Sorge, dass Dickson, den alle nur »Dicko« nannten, offenbar noch eine andere Seite hatte. Als sich der Bus Ventura näherte, hatte Erkelens beschlossen, dass er darüber mit Larry würde sprechen müssen. Larry hatte fünf Maxi-Weltmeisterschaften mit Dickson als Taktiker gewonnen.

      Erkelens wusste, dass sein Boss mehr an Leistung als an Persönlichkeit interessiert war. Darüber hinaus würde Larry eine Teambuilding-Veranstaltung wie diese vermutlich als dämlich abtun. Das Problem war, dass Larry Dickson noch nie so aus dem Gleichgewicht geraten erlebt hatte. Außer im Sydney-to-Hobart-Race. In dem Fall aber fiel Dickson nicht weiter auf, weil ohnehin alle seekrank waren.

      Larry hatte noch nicht gesehen, was die anderen erlebt hatten: die Beinahe-Faustkämpfe an Bord mit den eigenen Teammitgliedern oder das zänkische Verhalten. Larry hatte nur Siege erlebt, zu denen Dickson als Taktiker beigetragen hatte. Dickson war ein großartiger Segler. Vielleicht der beste von allen. 1987 war er im Alter von erst 26 Jahren Skipper der ersten Cup-Kampagne Team New Zealands gewesen. 1992 hatte Dickson auch das japanische Team als Skipper geführt, das im Louis Vuitton Cup Platz drei belegte. Und er war 1995 Initiator und Skipper einer in Neuseeland beheimateten und von TAG Heuer gesponserten Kampagne, die ebenfalls Platz drei in der Herausfordererserie erreichte. Doch Dickson war ebenso aufbrausend wie talentiert. In Seglerkreisen galt er als harter Knochen.

      In den Match Races zwischen den Teammitgliedern ging es vor der Küste von Ventura immer hitziger zu. Dickson überzog seine Crew mit Verbalattacken wie diesen: »Du bis ein verdammter Idiot und solltest gar nicht auf dem Boot sein dürfen« oder »Du bist ein Blender« oder »Wie kannst du damit nur deinen Lebensunterhalt verdienen?«.

      Glücklicherweise mangelte es aus Erkelens’ Sicht nicht an Leistungsträgern, falls Dickson das Team würde verlassen müssen. Erkelens hatte Vertrauen in die anderen Segler, die sich um die Position des Steuermanns bewarben: Cayard und Peter Holmberg von den Amerikanischen Jungferninseln, der bei den Olympischen Spielen 1988 in Seoul vor Pusan Silber in der Einhandklasse Finn gewonnen hatte. Dazu der in England geborene John Cutler, der in der gleichen Bootsklasse in Pusan Bronze gewonnen hatte.

      Erkelens wusste, dass Larry für Überlegungen anderer Menschen durchaus zugänglich war. Er wusste aber auch, dass Larry in der Geschäftswelt gerade deswegen nahezu einzigartig erfolgreich war, weil er allgemein herrschende Meinungen in der Regel ignorierte. Erkelens hatte miterlebt, wie schnell Larry Entscheidungen treffen und damit alle überraschen konnte.

      Atherton/Kalifornien

      September 2001

      »Mr. Ellison, machen Sie sofort den Fernseher an«, sagte ein Mitglied seines Hauspersonals, das in sein Arbeitszimmer gestürmt kam. Es war noch früh am Morgen des 11. September 2001, und Larry war bereits vor Sonnenaufgang auf den Beinen gewesen. Ein arbeitete in seinem Büro mit Ausblick auf den japanischen Garten seines Anwesens in Atherton. Er schaltete CNN gerade in dem Moment ein, in dem eine Boeing 767 in den Südturm des World Trade Centers in New York krachte. Als Pilot wusste er, dass es sich hier auf keinen Fall um einen Unfall handeln konnte, wie es in einigen Spekulationen angenommen wurde. Ein weiteres Flugzeug war 15 Minuten zuvor in den Nordturm gerast. Binnen Minuten würde ein drittes Flugzeug auf das Pentagon stürzen und ein viertes, ursprünglich auf dem Weg nach San Francisco und als Flug Nummer 93 identifiziert, auf ein Feld in Pennsylvania.

      Larry wählte die Nummer von Safra Catz, einer guten Freundin und treuen Wegbegleiterin bei der Oracle Corporation. Catz und Larry hatten sich 1986 kennengelernt, als sie noch bei Donaldson, Lufkin und Jenrette arbeitete, jener Investment-Bank, die den Börsengang seines Unternehmens durchgeführt hatte. Sie wurde 1999 von Oracle eingestellt und diente ihm nun als Assistentin und erledigte so viel Arbeit des CEOs, wie sie nur konnte.

      »Wen haben wir im World Trade Center?«, fragte Larry, der immer noch seinen Frotteebademantel trug. Angesichts von mehr als 100 000 Mitarbeitern in aller Welt, war er überzeugt, dass es Verluste gegeben hatte. »Wir brauchen schnellstmöglich die Namen und die Kontakte zu den Familien.«

      Nachdem er etwa ein Dutzend E-Mails verschickt hatte, nahm Larry ein schnelles Frühstück – Flunder, Reis, ein weich gekochtes Ei und grünen Tee –, zog sich an und machte sich auf den Weg zur Arbeit. Es dauerte nicht lange, bis Larry erfuhr, dass Oracle sieben Mitarbeiter in den Türmen verloren hatte. Darunter einen Mann, der in das Gebäude zurückgekehrt war, um anderen zu helfen. Er erfuhr außerdem, dass ein Kundenbetreuer namens Todd Beamer an Bord des todgeweihten Fluges Nummer 93 von Boston nach San Francisco gewesen war. Beamer schien den Kampf gegen die Terroristen in der Kabine angeführt zu haben, der sie vom Erreichen ihres eigentlichen Ziels abgehalten hatte. Larry hatte die Namen und die Telefonnummern der Familien und verbrachte in seinem Oracle-Büro in Redwood Shores im elften Stock viele Stunden mit Kondolenz-Telefonaten.

      In den folgenden Tagen blieben die New Yorker Börse, die Amerikanische Börse und die NASDAQ geschlossen. Larry hörte sich die Vorschläge seiner Manager und Angestellten an. Viele waren dafür, Oracle aus Respekt vor den Opfern ebenfalls zu schließen.

      »Oracle kann niemals schließen. Wir sind nicht Macy’s, und wir sind nicht die NASDAQ«, sagte Larry in einer Konferenzschaltung, »das Heer und die Marine, das Marinekorps und die CIA sind alle von unseren Systemen abhängig. Jeden Tag. Jeder, der mit dieser Krise zu tun hat – die Polizei, die Feuerwehr, die Krankenhäuser –, arbeitet 24 Stunden am Tag und sieben Tage die Woche. Sie erwarten von uns das Gleiche.«

      Nach dem Durchstarten mit Software Development Laboratories im Jahre 1977 und dem Gewinn seines ersten großen Kunden, der CIA, hatte Larrys Unternehmen eine Reihe von Regierungsdiensten auf sich aufmerksam gemacht, die alle daran interessiert waren, riesige Datenmengen in kurzer Zeit zu verarbeiten. Zu den ersten Kunden der Oracle Corporation zählten der Geheimdienst der Streitkräfte (Defense Intelligence Agency) und die NSA (National Security Agency). (Der Name des Unternehmens war 1979 von Software Development Laboratories in Relational Software, Inc., und 1982 in Oracle Systems Corporation geändert worden.)

      Oracles relationale Datenbank ermöglichte es diesen Diensten, riesige Datenmengen zu durchsuchen und zu filtern, um das eine kleine gesuchte Puzzleteil zu finden.

      In seinem Büro zu Hause –


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