Der Milliardär und der Mechaniker. Julian Guthrie
Oben an Deck hörte Larry Butterworth’ Salve gebrüllter Kommandos. »Es wird hart, Jungs! An alle: Das Vorsegel muss sofort runter! Jetzt!« Der Wind brauchte etwa zwei Minuten, um sich von unter zehn auf über 30 Knoten zu steigern. Fünf Minuten später waren daraus stramme 50 Knoten geworden. Nun befanden sie sich in einer wesentlich schlechteren Situation als zuvor. SAYONARA segelte mit einer Geschwindigkeit von zehn Knoten in den Wind statt mit nahezu 20 Knoten mit dem Wind. Die Geschwindigkeit des scheinbaren Windes über Deck hatte auf 60 Knoten zugenommen, und das Boot neigte sich in einem 40-Grad-Winkel auf die Seite. Plötzlich war es sehr schwer und gefährlich geworden, sich an Deck zu bewegen.
Einer nach dem anderen verschwanden die Männer unter Deck, holten sich ihre Lifebelts, krabbelten durch die Luke zurück an Deck und hakten sich ein, um nicht über Bord geblasen zu werden. Wer sich an Bord bewegen musste, der hatte immer eine der beiden mit dem Gurt am Körper verbundenen Leinen aus- und am nächsten möglichen »Festmacher« wieder einzuhaken. Und so fort. Es war ein langsamer, methodischer Prozess, ähnlich dem der Bergsteiger.
Chris Dickson, damals SAYONARAS Skipper und damit auf See verantwortlich für das Boot und die Crew und einer der weltbesten Segler mit dem Image einer notorisch schwierigen Führungsfigur, schrie die Männer an. Bevor sie Sydney verlassen hatten, hatte der Neuseeländer das Team Riggtests und diverse Mann-über-Bord-Manöver absolvieren lassen. Die Männer hatten gegrummelt und angemerkt, dass es ein schöner Tag in Sydney und der Hafen doch voller Haie sei. Doch Dickson war keiner, der Ausreden gelten ließ. Die Männer gingen über Bord, und jedes Ausrüstungsteil wurde getestet und nochmals getestet. Dickson hatte bereits Stürme erlebt und sogar in Orkanen gesegelt. Aber auf Booten, die dieser Art von Bestrafungen standhalten konnten. Von SAYONARA zu verlangen, einem Orkan standzuhalten, war, als würde man einen Formel-1-Wagen ins Gelände schicken.
Dickson hörte sich die Debatte über eine mögliche Umkehr und die Aufgabe des Rennens an. Auch er wünschte sich, an einem anderen Ort zu sein. Aber sie waren auf sich gestellt. Niemand würde ihnen helfen. Die Rückkehr wäre ebenso tückisch wie das Weitersegeln. Inmitten des Orkans hämmerten die Wellen wie Wände auf SAYONARA ein. Dickson, der das Segeln schon als Kind gelernt und schon im Teenageralter seine erste Match-Race-Weltmeisterschaft gewonnen hatte, erbrach sich. Andere ebenfalls.
Larry war sicher, dass es keine Umkehrmöglichkeit gab und sich die Bedingungen mit dem weiteren Vorstoßen in Richtung Süden verschlechtern würden. Es waren jene Breitengrade, die Seefahrer die »Brüllenden Vierziger« nannten. Die Winde stürmten jetzt mit Böen bis zu 65 Knoten und einem dissonanten bitteren Zischen und Heulen auf sie ein. Sie waren sehr viel gefährlicher als die Warnungen, die von Regatta-Offiziellen zuvor veröffentlicht worden waren.
Der Regen prügelte auf sie ein. Der Himmel, die See, die Geräusche – alles erschien wie aus einer anderen Welt. Um die Laune etwas aufzuheitern, sagte Larry zu Butterworth: »So habe ich entschieden, meine Weihnachtsferien zu verbringen? Es kostet mich eine Menge Geld, hier in der Bass Strait zu sterben. Wie dumm das doch ist!«
Larrys Bootsbauer Mark Turner mit den Spitznamen Tugsy und Tugboat (dt.: Schlepper) hatte die Schule in Neuseeland im Alter von 15 Jahren geschmissen, um das Bootsbauhandwerk zu erlernen. Nun war er unter Deck mit einem roten Filzstift unterwegs.
»Tugsy, was zum Teufel machst du da unten?«, fragte Larry.
»Ich markiere die Stellen, an denen das Kohlefasergelege delaminiert«, antwortete Tugsy ruhig. Seine blauen Augen blitzten, seine Wangen glänzten rot von den Strapazen an Deck in Wind und Regen. »Die verschiedenen Lagen brechen und reißen auseinander. Das Boot ist in einem ziemlich schlechten Zustand.«
»Was?«, antwortete Larry ungläubig, »der Bug bricht ab? Das ist ja verdammt großartig!«
Tugsy hatte auf Überführungen für Larry und andere schon schlimme Stürme erlebt. Aber nie zuvor hatte er sich mitten in einem Orkan befunden. Segler trainierten nicht für Orkane, weil es einfach nicht vorgesehen war, sich in einem Orkan aufzuhalten. SAYONARA wurde umhergeworfen, ihre Einzelteile ächzten und stöhnten unter den Lasten. Der wachsame und nur wenige Worte sprechende Tugsy – zutiefst loyal gegenüber Larry und dem Boot – tat, was er konnte, um SAYONARA in einem Stück zu halten. Seit frühester Kindheit liebte er Boote, ob es nun Bilder von Holzflößen oder kleine Einbaum-Boote aus umgestürzten Bäumen waren, die Menschen für ihre ersten Entdeckungsfahrten nutzten, oder dieses schlanke weiße Vollblut, für dessen Schutz er nun verantwortlich war.
Die Sekunden, Minuten und Stunden vergingen wie in Zeitlupe. Sogar ein Augenblinzeln fühlte sich wie ein kleiner Luxus an. Es gab keinen Weg, das Boot zu verlassen. Mit Angst war nichts zu erreichen. Der Regen attackierte die Haut wie mit Nadelstichen. Larry war normalerweise immun gegen Seekrankheit. Er fühlte sich immer wohl, wenn er seinen Kampfjet in Schleifen und Loopings steuerte. Aber auch er musste sich nun erbrechen. Er übergab sich mehrere Male, während er SAYONARA durch den Sturm steuerte, und hörte dabei jemanden sagen: »Bist du okay, Kumpel?«
»Nicht wirklich«, dachte Larry bei sich.
Der Funkkontakt war abgerissen, die Kommunikation abgeschnitten. Ein Wasserleck zu Beginn des Rennens hatte dazu beigetragen. Larry dachte darüber nach, was passieren würde, wenn das Boot kenterte. Segler könnten unter dem Boot eingeschlossen werden; Wasser könnte über das Boot einbrechen. Das Ruder oder den Bug zu verlieren würde der Sache ein Ende setzen. Würden sie sinken, hätten sie in der kalten See eine Überlebenschance von kaum mehr als 30 Minuten.
Normalerweise lebte Larry in einer Welt, in der jedes Detail perfekt arrangiert war, in der die Schuhe vor dem Betreten eines Hauses ausgezogen wurden, um die feinen Holzböden zu schützen und Dreck zu vermeiden, in der Autos in wohltemperierten Garagen gehegt und frische Blumensträuße kunstvoll arrangiert wurden. Hier und jetzt konnte kein Geld der Welt Sicherheit kaufen. Er starrte in die schwarze Leere. Kein einziger Stern war zu sehen. Sogar der Bug war kaum mehr auszumachen. Er schimpfte mit sich selbst: »Was für ein Idiot kommt hierher, um sich den Fischen als Fraß vorzuwerfen?«
Der Sturm wütete die ganze Nacht, während sich Larry, Butterworth, Erkelens, Robbie Naismith, Joey Allen und Tony Rae am Steuer abwechselten und sich Klick für Klick an Deck bewegten. Mike »Moose« Howard, SAYONARAS 113 Kilogramm schwerer Grinder, im American Football ein Linebacker im Team der Universität von Südkalifornien und ehemaliger Marinesoldat, hatte ihr Handeln zum Krieg mit der See erklärt.
Larry wusste: Je länger der Sturm andauerte, je höher würden die Wellen anschwellen. Auf den Gipfeln der zwölf Meter hohen Wellenberge wurde SAYONARA von 70 Knoten Wind angegriffen. Wie von einer Peitsche wurde SAYONARA dann in den freien Fall gefegt. Bange Bruchteile von Sekunden dauerte es bis zur Crash-Landung, die sich wie ein Aufprall auf hartem, aber willkommenem Asphalt anfühlte. Dort nahm der Wind in vergleichsweise ruhigen Bedingungen für kurze Zeit auf 40 Knoten ab, bis die nächste Welle in der Höhe eines vierstöckigen Gebäudes anrollte und das Boot wie ein Flugzeug in die Höhe katapultierte, bevor es in den nächsten magenumdrehenden freien Fall ging. Beeindruckt beobachtete Larry, wie Allen und Naismith eine Aluminiumplatte zurechtbohrten und damit den Bug ausbesserten, der sich längst wie ein Strohhalm im Sturm bog. Ihre Unternehmung entsprach dem Versuch, ein Auto während einer Achterbahnfahrt zu reparieren.
Nach 36 Stunden Sturm hatte Larry mit Ermüdung und Dehydrierung zu kämpfen. Der Versuch zu schlafen machte alles nur noch schlimmer. Wenn das Boot im freien Fall war, übertrug sich das auf die Männer in den schmalen Kohlefaserkojen. Man konnte die Kojen zwar mithilfe eines Flaschenzugs v-förmig zusammenziehen, um das Herausfallen zu vermeiden. Doch das half unter diesen Umständen kaum. Larry hatte bei seinen Segelregatten immer ein paar Snickers und Sardinenbüchsen dabei, doch auf dieser Reise gab es keine Hoffnung auf Nahrungsaufnahme. Sogar jeder Schluck Wasser kam wieder hoch. In einem kurzen Moment der Erleichterung sprach Larry über die Gefahren eines WC-Besuchs im Orkan. Es war pechschwarz unter Deck. Jedes Mal, wenn sie in den freien Fall gingen, wurde er durch die Luft und gegen die Kabinendecke geschleudert. »Ich hätte mir ganz leicht das Genick brechen können«, sagte er, »doch das wäre irgendwie ein entwürdigender Tod gewesen.«
Wieder zurück an Deck, warf Larry einen Blick auf die rollende