Krallenspur. Lara Seelhof

Krallenspur - Lara Seelhof


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geflogen war und deswegen Klassen wiederholt hatte. Er konnte also durchaus auch neunzehn oder sogar zwanzig sein.

      Ob ich damit richtiglag, würde ich wohl nie erfahren, denn so wie er aussah, hatte er nicht das geringste Interesse, auch nur Guten Morgen zu mir zu sagen, geschweige denn über etwas aus seinem Privatleben mit mir zu plaudern. Allerdings würden wir bei weiter zwischen uns herrschender Funkstille auch ein Problem mit unserer Zeichenaufgabe bekommen.

      Meine Nervosität wich einem Gefühl der Resignation. Er hatte vermutlich keine Lust, mit mir zu reden, weil ich nicht in sein Beuteschema passte. Und mir wurde heiß, was nicht weiter erstaunlich war, denn ich trug noch immer meine dicke Jacke.

      Ohne aufzustehen, denn ich beabsichtigte heute nicht noch einmal die Aufmerksamkeit meines Kunstlehrers zu erregen, wurschtelte ich eine Weile so unauffällig wie möglich, bis ich die Jacke endlich los war. Erleichtert legte ich sie zusammen mit meinem Schal über die Stuhllehne hinter mir.

      »Der Anhänger da an deiner Kette, ist das ein … Hund?«

      Ich erschrak so sehr über die unerwartete Ansprache, dass ich fast vom Stuhl gerutscht wäre.

      Er konnte doch unmöglich mich meinen?

      Aber wer außer mir hatte sonst einen Hund an der Kette? Hund an der Kette, eigentlich war das witzig, aber mir war im Augenblick überhaupt nicht zum Lachen zumute, denn er meinte tatsächlich mich. Es war dieselbe warme, beruhigende Stimme, die ich nach meiner Ohnmacht gehört hatte, nur hatte sie gerade absolut keine beruhigende Wirkung auf mich. Stattdessen spürte ich ein intensives Kribbeln in meinem Magen und die Härchen in meinem Nacken hatten mal wieder nichts Besseres zu tun, als sich aufzustellen. Mein Zustand besserte sich auch nicht, als ich es wagte, ihn anzusehen, obwohl er jetzt weder wütend noch gelangweilt aussah. Zu meiner Verblüffung wirkte er interessiert.

      »Äh … ja. Nein. Ich meine …«, stammelte ich. Klar denken war einfach unmöglich.

      »Nein oder ja? Was jetzt genau?« Er klang belustigt.

      Es dauerte eine gefühlte Ewigkeit, bis ich endlich eine Antwort zustande brachte. »Nein, ich meine, er sieht vielleicht so aus, aber das ist kein Hund.« Ich atmete tief ein. »Es soll eigentlich ein Wolf sein … auch wenn das anscheinend außer mir niemand sieht.« Oh je, was redete ich denn da bloß für ein bescheuertes Zeug? Das wollte unser Schulcasanova bestimmt nicht so genau wissen.

      »Tja, wenn du mich fragst …« Sein Blick wurde nachdenklich und er beugte sich etwas zu mir vor, um meinen Anhänger genauer zu betrachten.

      Himmel, er sah nicht nur klasse aus, er roch auch noch unglaublich gut. Kein Aftershave, eher wie …

      Er lehnte sich wieder zurück und ich konnte nicht mehr feststellen, wonach.

      »Doch.«

      Ich starrte ihn verständnislos an.

      »Es ist ein Wolf. Eindeutig.« Er nickte und seine Worte klangen absolut nicht so, als würde er mich veralbern. Eigenartigerweise wirkte er eher überrascht. »Auf jeden Fall ist er sehr hübsch.« Er sah wieder auf und … lächelte mich an.

      Gut, dass ich saß, sonst wäre ich wahrscheinlich wieder zusammengeklappt. Dieses Mal wegen meiner weichen Knie. In meinem Magen war jetzt ein ganzer Ameisenstaat in Alarmbereitschaft und mein Mund war vollkommen ausgetrocknet. Aber irgendwann wurde mir bewusst, dass ich ihn immer noch anstarrte. Ich musste was sagen. Irgendwas!

      »Danke. Und auch für das andere.« Es war das Erste, was mir einfiel.

      »Das andere?« Er runzelte die Stirn.

      Natürlich. Er hatte es vergessen. Jetzt würde es peinlich werden. Hätte ich doch bloß nichts gesagt. Doch nun war es zu spät. Er wartete auf meine Erklärung.

      »Du hast meiner Freundin was zu trinken für mich gegeben, oder? Ich meine, nachdem ich umgefallen war.«

      Mist! Das zu sagen, war anscheinend ein Fehler gewesen. Sein Lächeln wurde eindeutig schwächer.

      »Ja.«

      Mehr sagte er nicht. Aber was hatte ich denn auch erwartet? Etwa ein überschwängliches »Gern geschehen« oder ein »Stets zu Diensten«? Pah, lächerlich!

      Laut sagte ich: »Es hat klasse geschmeckt.«

      Aber sein gezwungenes Lächeln zeigte, dass er sich keineswegs über meine Begeisterung für das Getränk freute. Ich versuchte, die Situation irgendwie zu retten, aber mein »Was war das eigentlich?« machte es nur noch schlimmer. Sein Lächeln verschwand endgültig und wich einem seltsam angespannten, ja fast wachsamen Ausdruck.

      Das wiederum weckte mein Misstrauen. Hatte er mir etwa irgendetwas Illegales eingeflößt?

      »Ach, nichts Besonderes. War ’n Energydrink.«

      Ich war mir sicher, dass er log. »Ach echt? Und welcher?«

      »Keine Ahnung. Ich meine, ich probier immer mal verschiedene Sachen aus. Weiß nicht, was es gerade an dem Tag war. Vielleicht Blue Cross?« Er wirkte jetzt wieder vollkommen cool und zuckte lässig die Achseln.

      Es war garantiert kein Blue Cross gewesen. Den Geschmack kannte ich. Log er etwa, weil er etwas zu verbergen hatte? War er vielleicht von den anderen Schulen geflogen, weil er mit Drogen dealte? Womöglich hatte Abby ja doch recht und es war besser, sich von ihm fernzuhalten.

      Eine Weile schwiegen wir, doch dann plötzlich: »War deine Kette ein Geschenk?«

      Diesmal gefiel mir das Thema nicht, das er für die Fortsetzung unserer Unterhaltung ausgesucht hatte.

      »Irgendwie schon«, murmelte ich nur vage.

      »Von deinem Ex?«, mutmaßte er.

      Ich schüttelte den Kopf.

      »Na du machst es ja ganz schön spannend.«

      »Überhaupt nicht. Aber es ist kompliziert.«

      »Ich hab eine Schwäche für komplizierte Geschichten.« Seine Stimme klang jetzt ganz sanft und sofort war auch das angenehme Kribbeln wieder da. Beinahe wäre ich auch bereit gewesen, ihm meine Geschichte tatsächlich zu erzählen. Aber eben nur beinahe.

      »Und sie ist auch ziemlich lang«, wich ich aus.

      »Wir haben doch Zeit.« Er grinste. Jetzt war eindeutig er derjenige, der bohrte, und er schien die getauschten Rollen zu genießen.

      Noch bevor ich antworten konnte, wandte er sich ganz zu mir um und da war er wieder, dieser angenehme Geruch. Ich musste mich beherrschen, um nicht die Augen zu schließen, aber dann wurde mir bewusst, dass er noch immer auf meine Antwort wartete.

      Als ich aufsah, blickte ich ihm direkt in die Augen.

      Mein erster Impuls war, schnell wieder wegzusehen, aber wieder konnte ich es nicht. Doch diesmal war es anders. Der Ausdruck seiner Augen war nicht kalt oder zornig. Er betrachtete mich einfach nur irgendwie … wachsam und dann war es, als würde ich schweben.

      Es war ein eigenartiges Gefühl. Alles fühlte sich plötzlich ganz leicht an und dann wurde ich ganz langsam von einer grauen Wolke eingehüllt. Nein, eigentlich war es ein warmes silbernes Meer, in dem ich schwamm, umgeben von einem betörenden frischen Windhauch. Langsam wurde ich von schillernden Wellen davongetragen. Kleine grüne Inseln tauchten in dem grauen Ozean vor mir auf, um dann wieder aus meinem Blickfeld zu verschwinden, während ich entspannt und schwerelos dahintrieb. Ohne jedes Zeitgefühl.

      Doch irgendwann wurde das Grau heller, dann durchsichtig und schließlich verschwand es ganz und mit ihm das leichte, angenehme Gefühl. Ich seufzte enttäuscht. Aber dann wurde mir bewusst, wo ich mich befand. Im Kunstunterricht. Und Cassian Beckett saß neben mir, während ich mich irgendwelchen eigenartigen Tagträumen hingab. Hatte er etwa gemerkt, dass ich vollkommen weggetreten gewesen war?

      Nein. Er saß noch immer genauso da wie zuvor. Lächelnd, leicht vorgebeugt und den Kopf etwas zur Seite geneigt, so als wartete er auf irgendetwas. Klar, auf meine Antwort.

      Nervös


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