Krallenspur. Lara Seelhof

Krallenspur - Lara Seelhof


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      »Ach nein?« Es klang scharf und er betrachtete mich mit finsterer Miene. Doch dann änderte sich sein Ausdruck wieder. »Ich meine … es ist okay. Ist ja auch schon ziemlich lang her.«

      Seine Miene war jetzt wieder vollkommen cool, doch ich fühlte mich nicht besser.

      »Nein, ist es nicht«, sagte ich leise. »Egal wie lange es her ist, es tut immer weh.« Ich spürte, wie meine Kehle eng wurde. »Meine Eltern sind auch gestorben. Da war ich zehn.« Ich hätte nicht sagen können wieso, aber ich hatte das Gefühl, es ihm erzählen zu müssen. »Es war ein Autounfall.« Mum hatte mir erlaubt, bei meiner Freundin Sally zu übernachten, weil sie und Dad Freunde besuchen wollten. Auf dem Rückweg war ihr Auto mit einem anderen Wagen zusammengestoßen.

      »Sie waren beide schon tot, als man sie fand. Der Fahrer des anderen Wagens starb im Krankenhaus. Er war betrunken und hat die Kontrolle über das Auto verloren.« Ich musste heftig blinzeln, damit die Tränen blieben, wo sie waren.

      »Das tut mir leid.«

      Ich sah auf und da war tatsächlich ehrliches Mitgefühl in seinen Augen.

      »Und … du hast recht. Es tut weh.« Er schien noch etwas sagen zu wollen, doch die tiefen Stundenschläge der alten Standuhr zerstörten den besonderen Moment und mit jedem Gong schien sich die unsichtbare Mauer zwischen uns wieder aufzubauen.

      Wie viele Schläge waren es gewesen? Nein. Es konnte doch unmöglich schon so spät sein.

      Ich räusperte mich, noch immer etwas benommen von der seltsamen Stimmung. »Ich glaub, ich muss jetzt nach Hause.«

      Cassian verließ sofort seinen Platz am Kamin und öffnete wortlos die Tür.

      Nach der wohligen Wärme im Wohnzimmer spürte ich die eisige Kälte hier im Flur noch intensiver und bei dem Gedanken, jetzt allein in der Dunkelheit nach Hause laufen zu müssen, war mir alles andere wohl.

      »Warte«, hielt Cassian mich auf. »Besser, du ziehst die hier an. Sonst holst du dir noch den Tod in deinem dünnen Zeug.« Er nahm eine schwarze Lederjacke von dem Haken neben der Tür und legte sie mir um die Schultern. Ganz offensichtlich seine eigene.

      »Danke«, murmelte ich verblüfft über seine unerwartete Fürsorge. »Ich … ich bring sie dir morgen wieder mit in die Schule«, versprach ich, während ich zusah, wie er selbst nach dem grauen Kapuzen-Sweatshirt griff, das unter der Jacke gehangen hatte.

      »Mach das.« Er hob die Arme, um sich das Sweatshirt über den Kopf zu ziehen. Dabei rutschte sein dunkelblaues T-Shirt ein Stück hoch.

      Unwillkürlich hielt ich den Atem an. Sein durchtrainierter Sixpack hätte selbst Doug neidisch werden lassen und ich spürte, wie meine Wangen trotz der Kälte zu glühen begannen.

      »Gut, ähm … dann sehen wir uns morgen«, versuchte ich meine Verlegenheit zu überspielen, während er sich mit den Fingern durch seine Haare fuhr, die durch das Anziehen noch mehr verstrubbelt waren.

      »Du denkst doch nicht ernsthaft, dass ich dich allein durch den Wald nach Hause marschieren lasse, oder?« Er sah mich auf eine merkwürdige Weise an.

      »Ich … nein, ähm … doch. Natürlich. Ich kann gut alleine nach Hause gehen«, stotterte ich.

      Und schon wieder hatte er es geschafft, mich zu verblüffen.

      »Ich will hoffen, dass du allein gehen kannst und ich dich nicht tragen muss.«

      Ich ignorierte seine spöttische Bemerkung und wollte mich umdrehen. Doch seine Hand auf meinem Arm hielt mich zurück und wieder spürte ich dieses eigenartige Kribbeln dort, wo er mich berührte.

      »Bist du immer so schwierig?«

      »Ich bin überhaupt nicht schwierig«, protestierte ich.

      Er seufzte. »Und warum darf ich dich dann nicht nach Hause bringen?«

      »Weil ich gut auf mich alleine aufpassen kann.«

      »Wahrscheinlich kannst du das.« Eigenartigerweise klang es alles andere als überzeugt. »Aber … vielleicht könnten wir uns darauf einigen, dass ich heute Nacht einfach besser schlafe, wenn ich es tue?« Er sah mich fragend an.

      Hatte ich die Vorstellung nicht eben noch furchtbar gefunden, draußen alleine im Dunkeln herumzustolpern? Warum machte ich dann so ein Theater? Also nickte ich und schlüpfte in die Ärmel seiner Jacke. Da sie im Flur gehangen hatte, war sie unangenehm kalt.

      Ich hob fröstelnd die Schultern, während ich ihm zur Haustür folgte. Er zog sie hinter mir zu, schloss aber nicht ab.

      Nun, da die einzige Lichtquelle aus dem Wohnzimmer uns nicht mehr den Weg beleuchtete, war es wieder vollkommen finster. Am Himmel waren weder Sterne noch der Mond zu sehen, aber irgendwo direkt vor uns musste die Einfahrt sein. Ein Auto hatte ich nirgends gesehen. Also mussten wir zuerst zur Garage, aber wie sollten wir die finden? Ich spürte ihn neben mir.

      »Darf ich?«, erkundigte er sich höflich und ehe ich wusste, was er meinte, hatte er wieder meine Hand genommen.

      Erneut fühlte ich das vertraute Kribbeln, aber diesmal war es sofort angenehm. Doch mein wohliges Gefühl verging schnell wieder, als er sich erkundigte, ob ich etwas gegen einen Spaziergang hatte. Ein Spaziergang um diese Uhrzeit? War er verrückt? Bei Tageslicht hätte ich damit kein Problem gehabt, aber jetzt? Wir würden uns die Beine brechen. Aber ich kam nicht dazu abzulehnen, denn er deutete mein Schweigen als Zustimmung.

      »Gut. Es gibt hier nämlich ’ne Abkürzung. Ist allerdings etwas unwegsam und dunkel. Also bleib dicht hinter mir, ja?«

      Noch dunkler als die Einfahrt? Das sollte wohl ein Witz sein!

      Ich nahm an, er würde eine Taschenlampe benutzen, doch es blieb dunkel, als er zielstrebig losmarschierte und mich einfach hinter sich herzog. Es knackte unter unseren Füßen und der Boden wurde unebener, deshalb vermutete ich, dass wir durch den Wald liefen. Das war also seine Abkürzung. Na super.

      Auf einmal hatte ich ein mulmiges Gefühl. Nicht nur er musste verrückt sein. Ich war es eindeutig auch, mit einem wildfremden Typen im dunklen Wald herumzurennen. Was, wenn er sich verirrte?

      Oder wenn Abby doch recht hatte und er ein wahnsinniger Killer war? Schließlich wusste ich rein gar nichts über ihn, außer dass er zufällig die gleiche Highschool besuchte und mir vielleicht sogar Drogen gegeben hatte.

      Doch dann beruhigte ich mich. Wenn er mir tatsächlich etwas hätte antun wollen, wäre es in dem einsamen Haus viel einfacher für ihn gewesen. Außerdem machten sich Mörder vermutlich keine Gedanken darüber, dass ihre Opfer frieren könnten, dachte ich, und kuschelte mich noch enger in seine Lederjacke.

      Während wir weitergingen, rechnete ich ständig damit, dass wir gegen einen Baum prallen oder stolpern würden. Doch Cassian hatte offenbar mit der Dunkelheit überhaupt kein Problem. Er schien genau zu wissen, wohin er treten musste. Ab und zu wies er mich an mich zu ducken, weil ein Ast über unseren Köpfen hing, oder einen großen Schritt zu machen, wenn wir über Wurzeln liefen. Nur einmal war mein Schritt nicht groß genug und ich stolperte. Aber ich fiel nicht, denn er hatte sich zufällig genau in dem Moment zu mir umgedreht und ich landete direkt in seinen Armen. Sein Atem streifte meine Stirn, während mein Gesicht an seiner Brust lag.

      Er riecht wie der Wald, dachte ich. Frisch, erdig, ein wenig nach Minze, und mit einem Mal fühlte ich mich wieder seltsam benommen. Ich konnte - nein - ich wollte mich nicht mehr bewegen. Stattdessen lauschte ich dem regelmäßigen Schlagen seines Herzens.

      »Alles in Ordnung?«

      Ich nahm seine Stimme wie aus der Ferne wahr und mir wurde bewusst, wo ich mich befand, und sofort begann mein Herz wieder zu rasen. Eigentlich hätte ich mich von ihm losmachen müssen, damit er es nicht bemerkte, doch ich rührte mich nicht und er hielt mich weiter fest. Irgendwann brachte ich dann aber doch ein verlegenes »Ja« heraus. Bedauernd spürte ich, wie er mich losließ und einen Schritt zurücktrat. Als er wieder meine Hand nahm, dachte ich, wir würden weitergehen. Doch er rührte sich nicht.

      »Was


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