Krallenspur. Lara Seelhof

Krallenspur - Lara Seelhof


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endlich. Lass dir doch nicht jedes Wort aus der Nase ziehen!«

      Abby erhielt die Kurzfassung. Ich hatte ihn beim Joggen getroffen, mich mit ihm unterhalten und er hatte mir seine Jacke gegeben. Aus.

      Kein Wort darüber, dass ich in seinem Haus gewesen war und ihm meine Lebensgeschichte anvertraut hatte, und auch nicht, dass er mich nach Hause gebracht hatte. Davon wollte ich ihr einfach nichts erzählen. Und es war auch nicht der richtige Ort und Zeitpunkt, denn inzwischen waren wir im Klassenraum an unseren Plätzen angekommen und außerdem kam Cassian gerade herein.

      Er bedachte Abby mit einem netten Lächeln, ehe er mich begrüßte. »Hi. Wie geht’s?«

      Ich spürte die bohrenden Blicke der anderen Mädchen in meinem Rücken. »Bestens.« Unglaublich, wie konnte ich bei dem atemberaubenden Lächeln nur so locker klingen? »Aber du hast hoffentlich meinetwegen nicht gefroren?«

      Offenbar war die Lederjacke seine einzige Jacke, denn er trug auch heute Morgen nur das graue Sweatshirt.

      Er schüttelte den Kopf. »Mach dir keine Gedanken. Ist ja heut nicht besonders kalt.«

      »Na danke, mir reicht’s«, murmelte Abby und rieb ihre Finger aneinander.

      Dummerweise tauchte ausgerechnet jetzt Mrs. Darcy auf. Cassian nahm seine Jacke, zwinkerte mir noch einmal zu und verzog sich auf seinen Platz.

      Ich hatte mich gefreut, ihn zu sehen, aber dass er nun auch noch in diesem Kurs war, hatte den unangenehmen Nebeneffekt, dass ich auch diesmal nicht viel vom Unterricht mitbekam. Fortwährend klebte mein Blick an seinem Rücken und ich war mit meinen Gedanken eindeutig nicht beim Unterrichtsstoff. Stattdessen lief ich durch den Wald, und er hielt meine Hand. Diesmal heulte jedoch kein Wolf irgendwelche seltsamen Warnungen. Es gab nur ihn und mich und dann beugte er sich zu mir und …

      Ich fühlte einen unangenehmen Stoß in meiner Seite. Abby.

      Alle um mich herum hatten längst ihre Bücher aufgeschlagen und schrieben, während mein Geografiebuch noch in meinem Rucksack steckte. Hastig kramte ich es hervor, während mir meine Freundin leise zuraunte, was wir aufschreiben sollten.

      Wenigstens hatte Mrs. Darcy noch nichts von meiner geistigen Abwesenheit mitbekommen. Ich musste endlich mit der blöden Tagträumerei aufhören, sonst würde mein Abschlussjahr eine einzige Katastrophe werden. Also riss ich mich zusammen, verbannte Cassian vorerst aus meinen Gedanken und machte mich daran, die Aufgaben im Buch zu lösen.

      Als ich am Ende der Stunde Mrs. Darcy mein Blatt abgab, hatte ich gar kein so übles Gefühl. Etwas anderes jedoch freute mich noch mehr. Cassian tauchte sofort nach dem Gong wieder bei uns auf. Da ich meinen Stundenplan noch nicht ganz im Kopf hatte, war mir vollkommen entfallen, dass wir die nächsten beiden Stunden Kunst hatten.

      Abby verabschiedete sich mit einem vielsagenden Blick, um pünktlich zu ihrem eigenen Unterricht zu kommen, während ich mich gemeinsam mit IHM auf den Weg zum Kunstsaal machte. Wir unterhielten uns über den Test und im Kunstraum setzte er sich natürlich wieder neben mich. Schließlich waren wir ja Teampartner.

      »Ähm, hast du eigentlich eine Ahnung, was wir machen sollen? Ich habe Mr. Jefferson das letzte Mal wohl nicht so richtig verstanden.« Ich kam mir total blöd vor und hoffte nur, dass er nicht ahnte, dass er die Ursache für meine totale Unkenntnis war.

      Da Mr. Jefferson inzwischen mit dem Unterricht begonnen hatte, antwortete er mir nicht sofort. Doch der Lehrer begrüßte uns nur kurz und dann sollten wir weiter an unseren Projekten arbeiten.

      »Wir sollen uns gegenseitig zeichnen und das dann in ein berühmtes Gemälde übertragen«, erläuterte mir Cassian unsere Aufgabe, nachdem sich Mr. Jefferson an seinem Tisch niedergelassen hatte, um einen Stapel Arbeiten durchzusehen.

      »Oh nein«, stöhnte ich entsetzt, denn wenn ich etwas absolut nicht konnte, dann war es zeichnen und schon gar keine Gesichter. Ich bemerkte, dass er mich fragend ansah.

      »Ich bin vollkommen talentfrei, wenn es ums Zeichnen geht«, gestand ich verzweifelt.

      »Ach was, so schwer ist das gar nicht.«

      »Oh doch. Für mich schon.«

      »Das glaub ich nicht. Ich bin sicher, dass du das kannst. Es ist ganz einfach. Hier, ich zeig’s dir.« Er wühlte in seinem Rucksack, zog seinen Block hervor und einen Stift.

      Ich konnte gar nicht so schnell gucken, wie sein Bleistift über das Papier flitzte. Ab und zu sah er auf, warf mir einen prüfenden Blick zu, dann kritzelte er weiter. Er schien seine Umwelt vollkommen vergessen zu haben und plötzlich wirkte er nicht mehr so furchtbar cool, sondern irgendwie unbeschwert und glücklich. Leider war der Moment viel zu schnell vorbei. Sobald er den Stift hinlegte und das Blatt vom Zeichenblock abriss, erlosch das Leuchten in seinen Augen und seine »Mauer« war wieder da.

      Aber als er mir die Zeichnung hinhielt, war ich überrascht. Ich hatte das Gefühl, in einen Spiegel zu sehen, und auch wieder nicht. Das war ich. Ganz eindeutig. Er hatte jede Einzelheit meines Gesichts haargenau getroffen. Meine Augen, die Nase, Mund und Haare. Es war perfekt. Doch das Mädchen auf dem Bild war schön. Sie wirkte so lebendig. Ihre Augen glänzten, obwohl ihr Mund nicht lächelte, aber trotz ihres ernsten Ausdrucks strahlte sie Wärme und etwas ganz Besonderes aus. Nein. Das war nicht ich.

      »Gefällt es dir nicht?«

      Irrte ich mich oder klang er ein bisschen enttäuscht?

      »Im Gegenteil. Du kannst super zeichnen. Es ist … wahnsinnig schön.« Ich musste schlucken.

      »Es gehört dir, wenn du magst.«

      »Danke, denn es gefällt mir wirklich. Aber … weißt du … du hast mir sehr geschmeichelt.«

      »Geschmeichelt?« Er wirkte irritiert.

      »Ich meine, du hast mich viel hübscher gemacht, als ich bin.« Ich versuchte locker zu klingen, aber es kostete mich Überwindung, das zu sagen.

      Er runzelte die Stirn. »Nein, habe ich nicht. Du siehst genauso aus.« Es klang nicht wie Selbstlob und auch nicht wie ein Kompliment, eher wie eine sachliche Feststellung.

      »Und jetzt bist du dran.« Er drückte mir seinen Bleistift in die Hand.

      »Nein, bitte«, stöhnte ich. »Das kann ich echt nicht.« Ich hatte nicht die Absicht, mich vor ihm zu blamieren, und genau das würde ich, sobald der Stift das Papier berührte.

      »Doch, du kannst.« Seine Stimme hatte jetzt einen sehr bestimmenden Ton.

      »Nein. Es wird eine Katastrophe.«

      »Das glaube ich nicht. Komm schon. Versuch’s!«

      »Okay, aber sag nicht, ich hätte dich nicht gewarnt«, murmelte ich seufzend. So ein perfektes Gesicht konnte man nicht malen. Und ich schon gar nicht.

      Wahrscheinlich hatte ich ihn schon wieder viel zu lange angestarrt, doch es schien ihn nicht zu stören. Schnell sah ich auf das leere Papier. Wo sollte ich bloß anfangen?

      Probeweise malte ich die Außenlinie seines Kopfes. Es wurde ein Ei und hatte keinerlei Ähnlichkeit mit meiner attraktiven Vorlage. Genervt schnappte ich mir den Radiergummi, rubbelte die ganze Linie wieder weg und startete tapfer den nächsten Versuch.

      Nach zwanzig Minuten war das Blatt voller gezeichneter und wieder ausradierter Linien, sodass das Ganze mehr nach dem Netz einer geistig verwirrten Spinne aussah als nach seinem Porträt. Entnervt gab ich auf.

      »Hab ich es nicht gesagt?«, murrte ich.

      Er hatte den Anstand, nicht eine Miene zu verziehen, als er das Blatt betrachtete. »War doch eine gute Übung. Das andere kommt schon«, tröstete er mich.

      »Klar, und Schweine fliegen demnächst.«

      Er überhörte meine spöttische Bemerkung und gab mir Tipps, wie ich es besser machen konnte. Um ihn nicht zu enttäuschen, nahm ich ein neues Blatt.

      Diesmal konzentrierte ich mich weniger auf sein Äußeres, sondern mehr auf das, was er sagte.


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