Krallenspur. Lara Seelhof

Krallenspur - Lara Seelhof


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atmete ich tief durch und überlegte. Mein Handy lag auf meinem Schreibtisch. Ich wusste auch nicht, wie spät es war, denn meine Uhr lag daneben. Sicher war nur, dass es irgendwann dunkel werden würde.

      Grandma war bei ihrer Theatergruppe und würde erst spät nach Hause kommen. Aber wenn sie merkte, dass ich nicht da war, würde sie wissen, dass etwas nicht stimmte. Ich hatte ihr keinen Zettel hinterlassen, denn normalerweise wäre ich ja vor ihr zu Hause gewesen. Zuerst würde sie bestimmt meine Freunde abtelefonieren, aber später musste sie bemerken, dass meine Sportjacke und die Turnschuhe fehlten.

      Sie werden mich schon finden, wenn ich einfach hier warte, versuchte ich mich zu beruhigen. Sie werden mich suchen. Mit Hunden. So wie bei der kleinen Emily letzten Sommer. Allerdings war es unwahrscheinlich, dass Sheriff Bailey die Suchtrupps bei Dunkelheit losschicken würde.

      Die Aussicht, eine Nacht in meinem nassen Zeug bei der Kälte allein im dunklen Wald verbringen zu müssen, ließ meine mühsam erkämpfte Zuversicht bröckeln. Was, wenn …

      Ein lautes Knacken neben mir erschreckte mich beinahe zu Tode. Doch mein Sprung zur Seite erwies sich als Fehler, denn ich hatte meinen lädierten Knöchel vergessen. Der stechende Schmerz raubte mir den Atem und mein verletztes Bein knickte unter mir weg. Vor Schmerzen und Verzweiflung stiegen mir die Tränen in die Augen.

      Warum nur war ich in diesem verdammten Wald?

      Es knackte wieder.

      Angeblich gab es Pumas in der Gegend, aber normalerweise waren sie ebenso scheu wie die Wölfe.

      Oder war es womöglich sogar ein Bär? Vielleicht hatte ich aber auch nur einen Wanderer oder einen Jäger gehört?

      »Hallo? Ist da jemand?«, rief ich hoffnungsvoll. »Hallo?«

      Keine Antwort, nur ein weiteres Knacken. »Hallo, hört mich irgendjemand?«

      Nichts.

      Aber dann plötzlich … erhielt ich doch eine Antwort. Ein durchdringendes Heulen erklang und alle Härchen in meinem Nacken stellten sich auf.

      Natürlich war für die meisten Menschen ein Wolf eine ebenso furchteinflößende Vorstellung wie ein Puma oder ein Bär. Doch sie hatten nicht das erlebt, was ich erlebt hatte, und mir kam ein völlig verrückter Gedanke. Was, wenn es mein Wolf war? Wenn ich in der letzten Zeit ständig von ihm geträumt hatte, weil er wieder da war und ich das unbewusst gespürt hatte? Hoffnung keimte in mir auf und ich rief nach meinem Wolf.

      Tatsächlich kam ein wehklagendes Heulen als Antwort. Natürlich konnte ich nicht verstehen, was es zu bedeuten hatte, aber …

      »Hey Wolf, bist du das?«

      Wieder ein Heulen.

      »Wolf, ich bin in Schwierigkeiten.«

      Er reagierte nur, indem er erneut heulte.

      »Bitte. Ich kann nicht zu dir kommen. Ich bin verletzt.« Normalerweise war es albern, einem Tier so etwas zu erzählen, doch nicht in meinem Fall. Gespannt spähte ich in die Richtung, aus der das Heulen gekommen war. Aber ich konnte nichts erkennen. Da war nur eine graue Nebelwand.

      »Ich brauch deine Hilfe. Ich hab mich nämlich verirrt, weißt du? Also zeig dich doch bitte«, bettelte ich weiter und zwang mich wieder aufzustehen, obwohl mir vor Schmerzen kurz schwarz vor Augen wurde. Schwer atmend stand ich da und lauschte.

      Es war still, aber dann … heulte er wieder und es klang viel näher. Irgendwo nicht weit vor mir musste er sein. Doch wieso kam er nicht zu mir? Oder wollte er vielleicht, dass ich ihm folgte? Ich humpelte langsam ein paar Schritte in die Richtung, aus der das Heulen kam. Es verstummte.

      »Heul weiter! Bitte! Ich versuch ja, zu dir zu kommen, aber das ist nicht so einfach.«

      Warum ich mit einem Mal so sicher war, dass er mich wirklich in die richtige Richtung führen würde, konnte ich nicht sagen, aber ich folgte ihm, ohne zu zögern, auch wenn ich wegen der Schmerzen nur langsam vorwärtskam. Außerdem hatte ich die ganze Zeit Angst, ihn zu verlieren. Aber so unglaublich es auch war, er schien sich meiner langsamen Art der Fortbewegung anzupassen. Ich bekam ihn nicht zu Gesicht, doch immer, wenn ich nach ihm rief, kam sofort sein Heulen aus dem Nebel direkt vor mir.

      Allmählich wurde es immer dunkler. Nicht mehr lange und ich würde gar nichts mehr sehen können. Ich hätte mich beeilen müssen, aber mein Fuß tat so entsetzlich weh, dass ich eine Pause machen musste. Zähneklappernd ließ ich mich gegen einen dicken Stamm sinken. Nein, ich konnte nicht mehr weiter. Auf keinen Fall. Ich war so müde und die Schmerzen … Ich spürte, wie meine Lider schwer wurden. Nur kurz die Augen zumachen …

      Ich riss sie wieder auf. Nein, ich durfte unter keinen Umständen hier einschlafen. Ich lauschte, aber um mich herum war alles still. Der Wolf war verstummt, als ich stehen geblieben war. Ich rief nach ihm. Doch diesmal antwortete er nicht.

      »Wolf?«

      Nichts.

      Wieder das panische Gefühl. Er war doch nicht ohne mich weitergegangen?

      »Hallo? Hörst du mich?«, schrie ich verzweifelt. Er konnte mich nicht im Stich gelassen haben. Nicht jetzt. Nicht mein Wolf.

      »Heul weiter!«, flehte ich. »Bitte, hilf mir doch!«

      »Celia? Celia, bist du das?«

      Mein Herz machte vor Erleichterung einen regelrechten Sprung. »Ja. Hier! Ich bin hier!«, schrie ich und meine Stimme klang völlig hysterisch.

      Es folgte ein leises Knacken und dann tauchte er vor mir im Nebel auf.

      Als Cassian sich neben mich kniete, fiel ich ihm um den Hals. Er setzte sich zu mir, zog mich an sich und während ich vor Kälte und Erschöpfung am ganzen Körper zitterte und wie ein Schlosshund heulte, strich er mir beruhigend über den Rücken. In diesem Augenblick war es vollkommen egal, dass mich der Schulcasanova im Arm hielt und ich ihm die Jacke vollheulte. Er war einfach nur meine Rettung. Alles war gut.

      »Bist du okay?«, erkundigte er sich, als ich mich wieder beruhigt hatte.

      Ich nickte und mir wurde bewusst, dass ich schlimm aussehen musste. Verheult, nass und mit Schlamm bespritzt. Verlegen fuhr ich mir mit dem Ärmel über das Gesicht.

      »Sorry mit deiner Jacke«, murmelte ich. Dank mir war auch seine Lederjacke inzwischen völlig verdreckt.

      »Spinnst du? Das ist doch vollkommen egal.« Er zog sie aus und legte sie mir um.

      »Danke.«

      »Was ist denn überhaupt passiert?«

      »Mein Knöchel ist im Eimer. Ich bin beim Joggen über diese blöde Wurzel gestolpert und … mir fehlen eben deine tollen Reflexe«, versuchte ich zu witzeln, aber ich wusste, dass es furchtbar kläglich klang.

      Erschreckt keuchte ich auf, weil ich unerwartet angehoben wurde. Während er aufstand, legte ich automatisch meine Hände um seinen Nacken, um mich festzuhalten. Eigentlich wollte ich protestieren, doch er kam mir zuvor.

      »Ist bestimmt besser, wenn du dein Bein erst mal nicht mehr belastet, bis wir wissen, was damit ist.«

      »Aber du kannst mich doch nicht tragen. Ich bin viel zu schwer.«

      Er grinste. »Bist du nicht.«

      Nein, offensichtlich machte ihm mein Gewicht tatsächlich nichts aus. Immerhin war er ohne Schwierigkeiten mit mir auf dem Arm aus der Hocke aufgestanden und auch jetzt schien ich ihm keine Mühe zu bereiten. Also klappte ich meinen Mund wieder zu, denn ich war wirklich froh, hier wegzukommen. Er konnte mich ja immer noch absetzen, wenn ich zu schwer wurde.

      Wie bei unserem letzten »Spaziergang« hatte er auch diesmal kein Problem damit, dass es beinahe dunkel war. Auch der Nebel schien ihn nicht zu irritieren und für ihn war es anscheinend überhaupt vollkommen normal, mit mir auf dem Arm durch den Wald zu marschieren. Aber ich kam mir komisch dabei vor. Es war beinahe wie in diesen kitschigen Romanen, die Grandma hin und wieder las. Der Lord rettet das arme Mädchen aus großer Gefahr und trägt sie auf seinen Armen davon. Aber


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