Die Regulierung innovativer Finanzinstrumente. Thomas Weck
erfordert somit eine Bewertung im Rahmen der aufsichtsrechtliche Entscheidung zur Gefahrenabwehr. Ein nicht unerheblicher Schaden dürfte immer dort zu bejahen sein, wo eine Realisierung der mit der Transaktion verbundenen Risiken das Finanzsystem als solches gefährden können (systemisches Risiko). Allerdings muss die Transaktion nicht zwingend zu einer derartigen Systemgefährdung beitragen. Auch die Realisierung von Risiken unterhalb einer Systemgefährdung dürfte ausreichen, sofern die Schäden ihrer Art oder ihrem Umfang nach geeignet sind, das Vertrauen in die Stabilität des Finanzsystems zu vermindern. Eine eindeutige Grenze lässt sich zwar nicht abstrakt ziehen, dies ist für die Zwecke der vorliegenden Arbeit aber auch nicht erforderlich.
3. Hinreichende Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts in absehbarer Zeit
Die weiteren Elemente einer aufsichtsrechtlichen Gefahr sind, dass der Eintritt eines relevanten Schadens in absehbarer Zeit hinreichend wahrscheinlich sein muss. Erneut handelt es sich um Tatbestandselemente, die eine normative Bewertung erfordern („hinreichend“, „absehbar“).
Die Einschätzung, ob ein solcher Schaden „hinreichend“ wahrscheinlich ist, ist anhand eines Maßstabs objektivierter Lebenserfahrung vorzunehmen. Sie muss alle relevanten Umstände einbeziehen, also insbesondere die Risikostruktur des betreffenden Finanzinstruments und die Art und die Umstände seines Einsatzes. Bei Anwendung des genannten Maßstabs ist zu fragen, zu welchem Grad der Schaden, der bei Realisierung der mit einer Finanztransaktion verbundenen Risiken eintreten könnte, tatsächlich zu erwarten wäre.692 Hinweise darauf, inwiefern dies der Fall ist, dürften sich insbesondere aus folgenden Gesichtspunkten ergeben können:693
• Dem Grad der Informationsasymmetrien, die nach den Merkmalen des Finanzinstruments und der Art und den Umständen seines Einsatzes zwischen den Transaktionspartnern bestehen und zu einer Risikoabwälzung führen können.
• Dem Grad der Hebeleffekte, die sich bei Nutzung des Finanzinstruments ergeben können und der Wahrscheinlichkeit, dass diese Hebeleffekte zu Nachteilen für an der Transaktion nicht beteiligte Dritte führen können.
Ob ein Schaden in „absehbarer“ Zeit eintritt, erfordert eine Einschätzung, wie sich die wirtschaftliche Situation der Transaktionspartner und das Marktumfeld im Laufe des Einsatzes des Finanzinstruments voraussichtlich entwickeln werden, bevor die Finanztransaktion vollständig abgewickelt ist. In diesem Rahmen dürften insbesondere unvorhergesehene Marktschwankungen relevant werden können, aber auch Entwicklungen außerhalb der Finanzmärkte als solchen (z.B. allgemeine Konjunkturschwankungen). Der Zeitraum, innerhalb dessen ein Schadenseintritt „absehbar“ ist, verengt sich dabei, je volatiler und schwerer zu überblicken die Markt- und Wirtschaftsentwicklung ist, also insbesondere in einer Krise.
Auch hinsichtlich der Einschätzung, ob ein etwaiger Schaden mit hinreichender Wahrscheinlichkeit in absehbarer Zeit eintritt, dürfte sich keine eindeutige Grenze bestimmen lassen. Dies gilt um so mehr, wenn man bedenkt, dass sich unter Umständen die Auswirkungen der Risikostruktur eines Instruments und der Art bzw. Umstände seines Einsatzes kaum sachgerecht unterscheiden lassen (z.B. bei exotischen Optionen). Eine Grenzziehung ist hier aber erneut auch nicht erforderlich.
4. Ungehinderter Geschehensablauf
Mit der letzten (negativen) Voraussetzung, dass der abzusehende Geschehensablauf ungehindert sein muss, wird eine Erfolgsprognose verlangt. Hierbei bleiben mögliche alternative Geschehensabläufe, die sich bei Hinzudenken weiterer Einflussfaktoren ergeben könnten, unberücksichtigt.
5. Einschätzungs-/Beurteilungsspielraum (Gesetzgeber/Behörde)
Die Beurteilung, ob ein Gefahrentatbestand vorliegt, der aufsichtsrechtliche Maßnahmen rechtfertigen kann, erfordert nach den vorausgehenden Ausführungen normative Wertungen, in denen nicht zuletzt der Komplexität des Geschehens auf den Finanzmärkten Rechnung zu tragen ist.
Der Gesetzgeber verfügt insofern über eine Einschätzungsprärogative. Er hat die nötigen Wertungen im Gesetz vorweggenommen, etwa indem er den Eingriffszeitpunkt durch entsprechende Normvorgaben nach vorne verlegt hat. Beispielsweise genügt es nach den bestehenden Regelungen, dass Finanzmarktteilnehmer keine ausreichenden Kapitalpuffer aufweisen oder dass sie Derivatetransaktionen nicht über eine Zentrale Gegenpartei ausführen, um den Aufsichtsbehörden die Befugnis zu einem Tätigwerden zu eröffnen. In manchen Fällen räumt der Gesetzgeber aber auch den Aufsichtsbehörden einen Beurteilungsspielraum auf Tatbestandsebene ein.694 Dies kann dann der Fall sein, wenn das Gesetz konkretisierungsbedürftige Begriffe verwendet. In einem solchen Fall können die zuständigen Behörden kraft einer besonderen Sachkunde das Gesetz in einer Weise, die dem gegebenen Sachverhalt in angemessener Weise Rechnung trägt, anwenden.695
Die Ausgestaltung und Durchsetzung der Regulierung erscheint im Einzelnen abhängig davon, welche rechtspolitischen Annahmen ihr zugrunde liegen. So dürfte sich eine potenzielle Gefahrenlage relativ weitgehend unter der Annahme bejahen lassen, dass die Marktteilnehmer Risiken nach Möglichkeit externalisieren und dass z.B. Moral-hazard-Probleme weit verbreitet sind. Dagegen erscheint regulatorische Zurückhaltung geboten, wenn man die Annahme zugrunde legt, dass die Marktteilnehmer zumindest im Regelfall nur für sie beherrschbare Risiken eingehen wollen und auch Risiken für dritte Marktteilnehmer im Normalfall zumindest nicht anstreben.
669 Z.B. G 20, Declaration at the Summit on financial markets and the world economy, 15. November 2008 (Fn. 593), Tz. 2, Action Plan S. 1ff.; G 20, Leaders, Statement vom 2. April 2009 (Fn. 602), Tz. 14; Leaders, Statement vom 24.–25. September 2009 (Fn. 605), Präambel, Tz. 17; Hauptteil Tz. 10. 670 So Leaders, Statement vom 24.–25. September 2009 (Fn. 605), Hauptteil Tz. 10; G 20 Seoul Summit Document vom 11.-12. November 2010 (Fn. 608), Tz. 27 („reckless and irresponsible risk taking“). 671 So z.B. IOSCO, Risk Identification and Assessment Methodologies for Securities Regulators, FR02/14 Juni 2014; Basel II (Fn. 26), Rz. 10. 672 Erwägungsgründe 1, 11, 15 der VO 575/2013. Makro- und Systemrisiken sollen dabei jedenfalls insoweit relevant sein, wie sich daraus „eine Gefahr für die nationale Finanzstabilität“ ergibt; vgl. Erwägungsgrund 20 der VO 575/2013. 673 Art. 1 Abs. 1 VO 575/2013. 674 Siehe z.B. Art. 17 VO 575/2013 („Risiken, die ihre Finanzlage gefährden“), Art. 320 lit. a und Art. 321 lit. c („Gefährdung durch operationelle Risiken“), Art. 322 Abs. 3 lit. c und Abs. 5 („Gefährdungen“); Art. 181 Abs. 1 lit. h („Möglichkeit unerwarteter Verluste“) und Erwägungsgrund 70 der VO 575/2013 („Gefahr für den Fortbestand des Instituts“). Siehe allerdings auch 458 Abs. 2 VO 575/2013, wo ein konkreter Gefahrentatbestand definiert wird („Erkennt die [...] Behörde Veränderungen der Intensität des Makroaufsichts- oder Systemrisikos mit möglicherweise schweren negativen Auswirkungen auf das Finanzsystem und die Realwirtschaft [...]“). 675 Siehe z.B. Art. 1, 4 Abs. 1, 2, 5 Abs. 1, 2 VO 1024/2013 zur Übertragung besonderer Aufgaben im Zusammenhang mit der Aufsicht über Kreditinstitute auf die Europäische Zentralbank (SSM-Verordnung), ABl. L 287 vom 29. Oktober 2013, S. 63; zu ergänzenden Befugnissen z.B. zur Informationsbeschaffung siehe Art. 9ff. VO 1024/2013; zu Koordinierungsbefugnissen Art. 108 Verordnung 468/2014 zur Einrichtung eines Rahmenwerks für die Zusammenarbeit zwischen der Europäischen Zentralbank und den nationalen zuständigen Behörden und den nationalen benannten Behörden innerhalb des einheitlichen Aufsichtsmechanismus (SSM-Rahmenverordnung), ABl. L 141 vom 14. Mai 2015, S. 1. 676 Art. 1 Abs. 1 VO 600/2014. 677 Siehe insb. Erwägungsgründe