Die Regulierung innovativer Finanzinstrumente. Thomas Weck
schutzfähiges Rechtsgut und eine speziell die betreffenden Maßnahmen rechtfertigende Gefahrenlage (insb. im Fall von Eingriffen in die Rechte Dritter) gibt.730
Diese Anforderungen sollten die Effektivität der Gefahrenvorsorge nicht grundsätzlich beeinträchtigen. Der Effektivitätsgrundsatz wird vielfach zur Begründung von Präventionsmaßnahmen herangezogen. Dabei bleibt bisweilen unklar, wo dieser Grundsatz rechtlich genau verortet wird und welchen Inhalt er hat.731 Zutreffend erscheint ein Effektivitätsverständnis, wonach rechtliche Effektivität einen Rationalitätsmaßstab für die Verwaltungsorganisation darstellt und sich danach bemisst, ob das Recht in seiner Steuerungswirkung bzw. mit Blick auf die Zielerreichung anwendungswirksam ist.732 Ein solches Effektivitätsverständnis lässt sich für den Gesetzgeber aus der demokratischen Legitimation seines Handelns (Art. 20 Abs. 1, 2 GG) und für die Verwaltung aus deren Gesetzesbindung (Art. 20 Abs. 3 GG) ableiten.733 Es gestattet insbesondere eine Kosten-Nutzen-Abwägung. Diese muss von den Anforderungen ausgehen, die das höchstrangige Recht (EU-/Verfassungsrecht) an den Schutz der dadurch anerkannten Rechtsgüter stellt. Der Effektitätsgrundsatz kann dann genutzt werden, um aus den betreffenden Rechtsgütern Kriterien für die Bemessung der zumindest zu ergreifenden Maßnahmen zur Risikoerkennung, Risikobewertung und zum Risikomanagement abzuleiten.734 Die Zulässigkeit der jeweiligen Maßnahmen wird nach außen hin durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz begrenzt. Dieser steht unverhältnismäßigen Eingriffen in mitbetroffene Rechtsgüter entgegen.
Eine effektive Gefahrenvorsorge ist bei gegebener Unsicherheit realistischerweise nur darauf zu richten, dass Maßnahmen auf absehbare Sicht überhaupt einen Beitrag zur Vermeidung oder Verminderung konkreter Gefahren leisten können und nicht zugleich selbst mit übermäßigen Belastungen einhergehen.735 Wann dies der Fall ist, dürfte in erster Linie der Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers unterliegen. In Hinblick auf die Finanzmärkte hat sich der Gesetzgeber für eine im Ganzen sehr weitgreifende und daher auch sehr belastende Gefahrenvorsorge entschieden. Dabei hat er Instrumente gewählt, die vor dem Hintergrund der Erfahrungen aus der Finanzkrise 2008–2012 und früherer Krisen aussichtsreich erschienen.736 Die rechtspolitische Entscheidung zu einer derart umfangreichen Gefahrenvorsorge ist angesichts der schwerwiegenden Folgen, die Finanzkrisen für die Gesamtwirtschaft haben können, nicht per se zu beanstanden, auch wenn sich angesichts der Belastungen für die Marktteilnehmer die Frage stellen kann, ob die Gesetzgebung noch verhältnismäßig ist.737
4. Verknüpfung: Risiko als Einflussfaktor für Gefahrbeurteilung und für Maßnahmen
Einzelne Vertreter des Schrifttums haben darauf hingewiesen, dass das Prinzip der Gefahrenvorsorge sich vor allem auf die Verarbeitung von Irrtumskosten auf der Rechtsfolgeseite bezieht. Es komme zu einer Verlagerung von „erfahrungsbezogenen“ Gefahrenabwehr zu einer „ungewissheitsorientierten“ Risikosteuerung vorhandener Risiken (d.h., das Recht werde „reflexiv“).738 Zwar bleibe es (auf Tatbestandsseite) notwendig, das Risiko, das Gegenstand der Gefahrenvorsorge ist, an rechtliche Schutzziele zurückzubinden und eine Folgenbewertung auf der Grundlage vorhandener Kenntnisse vorzunehmen, um so (auf Rechtsfolgeseite) bekannte Risiken zu reduzieren und unbekannten Risiken präventiv zu begegnen.739 Der zu konkretisierende Sachverhalt und die zu ergreifenden Maßnahmen seien aber nicht unabhängig voneinander, sondern stünden je nach Abschätzbarkeit der betreffenden Risiken in einem wechselbezüglichen Verhältnis zueinander.740
Diese Überlegung ist nicht leicht verständlich, erscheint aber zutreffend: Das Vorliegen eines Sachverhalts, der Maßnahmen der Gefahrenvorsorge rechtfertigt, lässt sich aufgrund der Unsicherheit, ob sich ein vorhandenes Risiko zum Nachteil eines Schutzguts verwirklichen wird, nur eingeschränkt beurteilen. Jene Unsicherheit wirkt sich sowohl hinsichtlich der Lagebeurteilung als auch hinsichtlich der zu treffenden Maßnahmen aus. Damit lässt sich auch nur eingeschränkt sagen, welche Maßnahmen erforderlich sind, um einen effektiven Rechtsgüterschutz zu gewährleisten. Die Unsicherheit erschwert einerseits die Entscheidung darüber, welches Mindestmaß eine Gefahrenvorsorge zum effektiven Schutz bestimmter Rechtsgüter haben muss, andererseits aber auch die Entscheidung darüber, welche Maßnahmen aufgrund der damit einhergehenden Nachteile für andere Rechtsgüter unverhältnismäßig sind. Es dürfte weiterhin gerade der Umfang der Unsicherheit sein, der die Entwicklung eines maßlosen Präventionsstaats provozieren kann. Denn die zu treffenden Entscheidungen verlagern sich um so mehr auf den zuständigen Amtswalter, je mehr der Gesetzgeber den Vorfeldbereich zu einer Gefahr (auf Tatbestandsseite) offenlässt und je allgemeiner er die zu treffenden Maßnahmen (auf Rechtsfolgeseite) beschreibt. Hiermit eröffnet sich ein ungeregelter Raum, in dem willkürliche Einzelfallentscheidungen möglich werden. Anders ist die Situation dann, wenn der Gesetzgeber für einen – gegebenenfalls weit definierten – Vorfeldbereich konkrete Maßnahmen vorsieht, die unabhängig von der Entwicklung im konkreten Einzelfall umzusetzen sind und die eine durch den Gesetzgeber bestimmte und eindeutige Wirkung aufweisen. Wird auf die tatbestandlich offene Ausgangslage mit solchen Maßnahmen auf Rechtsfolgeseite geantwortet, ist eine willkürfreie Gefahrenvorsorge also durchaus möglich. Die Maßnahmen müssen aber jeweils unter den Gesichtspunkten der Effektivität und insbesondere der Verhältnismäßigkeit austariert sein.
Das Finanzaufsichtsrecht folgt – wie im Einzelnen zu zeigen sein wird – eben dieser Regelungsphilosophie. Denn soweit es um den Umgang mit Risiken geht, die aufsichtsrechtlich bereits erfasst werden, stellt der Rechtsrahmen zwar keine konkreten Anforderungen an die Gefahrnähe, gibt aber gleichzeitig sehr konkrete aufsichtsrechtliche Maßnahmen vor (z.B. Beschränkungen der Geschäftstätigkeit, Kapitalvorgaben, Verhaltenspflichten gegenüber den Kunden), die von der weiteren Lageentwicklung unabhängig ausgestaltet und (aus Sicht des Gesetzgebers) einerseits effektiv und andererseits verhältnismäßig sind. Die beschriebene Regelungsphilosophie kann allerdings auch zugrunde gelegt werden, wenn es um die Vorsorge bei Finanzinstrumenten mit einer neuartigen Risikostruktur geht, die es den Marktteilnehmern ermöglichen, die vorhandene staatliche Regulierung zu umgehen. Unter diesen Umständen droht die Schutzwirkung vorhandener aufsichtsrechtlicher Maßnahmen gegenüber dem gesetzlich intendierten Maße verkürzt zu werden. Damit stellt sich die Frage, wie die verbleibende Regulierung anzuwenden ist, um eventuelle Schutzdefizite zu kompensieren. Bei der Lösungssuche ist auf die Überlegungen dieses Abschnitts zurückzukommen.741
III. Allgemeine Vorgaben des höherrangigen Rechts
Es bleibt die Frage, ob sich die Notwendigkeit einer ordnungsrechtlichen Gefahrenvorsorge aus höherrangigem Recht ableiten lässt. Diese Frage erscheint hinsichtlich des allgemeinen Gefahrenvorsorgeprinzips ungeklärt (Abschn. 1). In Bezug auf die Gefahrenvorsorge im Finanzaufsichtsrecht dürften definitivere Aussagen möglich sein (Abschn. 2).
1. Unsicherheiten bezüglich der Gefahrenvorsorge in anderen ordnungsrechtlichen Bereichen
Im vorangehenden Abschnitt wurde darauf hingewiesen, dass der moderne Rechtsstaat ein Mindestmaß an effektivem Rechtsgüterschutz erfordert. Die Notwendigkeit einer Gefahrenvorsorge wird deshalb in anderen ordnungsrechtlichen Bereichen als dem Finanzaufsichtsrecht auch mit der Notwendigkeit eines solchen Rechtsgüterschutzes begründet. In diesem Kontext können Schutzgüter bedeutsam sein, die im Allgemeininteresse bestehen (z.B. Gesundheits- und Umweltschutz, gewisse Sozialstandards).742 Aus diesen Schutzgütern können dann objektive Schutzpflichten folgen. Diskutiert werden aber vor allem aus den Grundrechten hergeleitete Schutzgewähransprüche. Diese können sich im Grundsatz sowohl aus den Unionsgrundrechten als auch aus nationalen Grundrechten ergeben.
Die Unionsgrundrechte sind vom EU-Gesetzgeber bei allen von ihm erlassenen Rechtsakten zu beachten.743 Zwar ist bislang offen, ob sich auch aus den Unionsgrundrechten Schutzpflichten ableiten lassen. Dies erscheint insbesondere dort fraglich, wo es sich um eine Pflichten zur Rechtsetzung handeln würde.744 Auch ist der Schutzbereich der Unionsgrundrechte in der europäischen Rechtsprechung bislang nur teilweise und auch nicht immer exakt bestimmt worden.745 Allerdings schließen die Unsicherheiten auf der Ebene des Unionsrechts Pflichten für den nationalen Gesetzgeber nicht aus. Der Europäische Gerichtshof