Praxishandbuch DSGVO. Tobias Rothkegel
sonstigen Umständen lässt sich herleiten, dass eine Sprachfassung gültiger ist als eine andere. Darüber hinaus legt der EuGH die unionsrechtlichen Begriffe unabhängig von der Verwendung dieser Begriffe in einzelnen Mitgliedstaaten aus.23
Praxishinweis
Bei der Auslegung der DSGVO sollten auch andere Sprachfassungen Berücksichtigung finden. Im Fall von Unstimmigkeiten sind beide Versionen gleich gültig. Der Wortlaut ist dann unstimmig. Widersprüche lassen sich nicht durch eine Auslegung der verschiedenen Sprachfassungen auflösen, sondern nur durch die Anwendung der anderen Auslegungsmethoden. Obwohl die Trilogverhandlungen auf Englisch geführt wurden, geht also die englische den anderen Sprachfassungen bei der Auslegung des Wortlauts nicht vor. Diese Tatsache kann alleine im Rahmen der teleologischen oder systematischen Auslegung Berücksichtigung finden.
bb) Teleologische Auslegung
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Eine besonders wichtige Auslegungsmethode der europäischen Gerichtsbarkeit ist die Auslegung von Normen anhand des Gesetzeszwecks. Diese Auslegungsmethode hat in der europäischen Rechtsprechung eine weitaus größere Bedeutung als in der deutschen und sie wird teilweise auch als bei Weitem wichtigste Auslegungsmethode gesehen.24
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Zur Bestimmung des Ziels einer Norm greift der EuGH insbesondere auf die entsprechenden Erwägungsgründe zurück.25 Dabei leitet der EuGH aus diesen Erwägungsgründen vereinzelt sogar selbstständige Rechtssätze ab.26 Punktuell korrigiert oder ergänzt der EuGH die Erwägungsgründe auch anhand der relevanten Regelungen der Verträge.27
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Falls die Erwägungsgründe unergiebig sind, stellt der Gerichtshof hinsichtlich des Zwecks einer Norm auch auf den Zusammenhang des Textes ab. Er bezieht dabei weitere Normen des jeweiligen Gesetzes in seine Auslegung mit ein und identifiziert deren Ziele und die Auswirkungen des Gesamtsystems. Diese Auswirkungen sieht er grundsätzlich als vom Gesetzgeber intendiert an und verbindet auf diese Weise eine teleologische mit einer systematischen Auslegung.28
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Auch in datenschutzrechtlichen Leitentscheidungen hat die teleologische Auslegung bereits eine wichtige Rolle gespielt. So hat der Gerichtshof z.B. in seiner „Safe Harbor“-Entscheidung entscheidend auf den Zweck der Art. 25 und 28 RL 95/46/EG abgestellt, um sein Ergebnis zu begründen.29 Dabei hat er auch auf Art. 8 GRCh zurückgegriffen, um diesen Zweck herzuleiten.30 Auch für die Auslegung des Begriffs „personenbezogenes Datum“ war eine Auslegung auf Grundlage des entsprechenden Erwägungsgrunds entscheidend.31
cc) Systematische Auslegung
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Die systematische Auslegung erschließt den Regelungsgehalt einer Norm durch ihre Position und ihre Funktion innerhalb der Normen und des Systems des jeweiligen Textes.32 Innerhalb der DSGVO wäre beispielsweise die Auslegung eines Begriffs in einem Artikel anhand der entsprechenden Begriffsdefinition in Art. 4 DSGVO ein Fall der systematischen Auslegung.
Ein besonderer Fall der systematischen Auslegung des Unionsrechts ist die vertragskonforme Auslegung des Sekundärrechts.33
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Insbesondere im Hinblick auf die RL 95/46/EG hat der Gerichtshof bei seiner Auslegung auch bereits auf Art. 8 GRCh zurückgegriffen und aus dieser die Zwecke einer Norm hergeleitet.34 Er sprach insoweit von einer Auslegung „im Lichte der Charta“.35 Es handelte sich wohl um eine systematische Auslegung, die darauf abzielte, den Gesetzeszweck für eine teleologische Auslegung herzuleiten.
Beispiel
Ein aktuelles Beispiel, in dem die systematische Auslegung eine große Rolle spielt, betrifft die Bestimmung der datenschutzrechtlichen Anforderungen an den Einsatz von Cookies. Im Zusammenhang mit der Auslegung der Anforderungen nach Art. 5 Abs. 3 RL 2002/58/EG hat der EuGH in seinem Urteil in Sachen Planet49 konstatiert, dass bei der Auslegung einer Vorschrift des Gemeinschaftsrechts neben Wortlaut und Zielen auch der Kontext und das gesamte Unionsrecht zu berücksichtigen seien.36 Das könnte zur Folge haben, dass bei der Frage der Anwendung von Art. 6 DSGVO durchaus auch dem Umstand Rechnung zu tragen ist, dass in Art. 5 Abs. 3 RL 2002/58/EG ein explizites Einwilligungserfordernis enthalten ist.
dd) Historische Auslegung
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Die historische Auslegung sucht den wahren Willen des Gesetzgebers (subjektiv-historische Auslegung) oder die historische Funktion einer Norm unter Betrachtung ihrer Entstehungsgeschichte zu ergründen (objektiv-historische Auslegung).37 Jedenfalls im Falle des Sekundärrechts, also auch der DSGVO, wenden die europäischen Gerichte auch diese Auslegungsmethode an.38
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Allerdings hat die historische Auslegung nur eine stark untergeordnete Bedeutung.39 Primär findet sie bei verschiedenen veröffentlichten Fassungen aufeinander folgender Rechtsakte oder bei mehreren Entwürfen eines Rechtsakts Anwendung.40 Insbesondere nutzt der Gerichtshof die historische Auslegung, um gefundene Auslegungsergebnisse durch die historische Auslegung als Hilfsbegründung zu bestätigen.41
Praxishinweis
Angesichts der geringen Bedeutung der historischen Auslegungsmethode in der Rechtsprechung des Gerichtshofs ist bei der Auslegung der DSGVO Vorsicht geboten, sofern ein Auslegungsergebnis primär mit einem Verweis auf die Änderungen des Entwurfs der DSGVO im Rahmen der Trilogverhandlungen gestützt wird. Es ist fraglich, ob der Gerichtshof den Trilogverhandlungen eine entscheidende Bedeutung beimessen wird.
ee) „Effet-utile-Prinzip“
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In der europäischen Rechtsprechung hat das „Effet-utile-Prinzip“ eine besondere Bedeutung. Normen sind danach so auszulegen, dass sie ihrem Ziel am wirksamsten entsprechen.42 Unter mehreren Auslegungsergebnissen wäre also das Ergebnis zu wählen, mit dem das Ziel der jeweiligen Norm möglichst effektiv erreicht wird.43
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Das „Effet-utile-Prinzip“ kann sowohl als eine Variante einer systematischen44 als auch einer teleologischen45 Auslegung gesehen werden.
Praxishinweis
Gerade im Datenschutzrecht ist das „Effet-utile-Prinzip“ häufig relevant. Bei sämtlichen Normen, die bestimmte Verhaltensweisen untersagen sollen, streitet das „Effet-utile-Prinzip“ für diejenige Auslegung, die dem jeweiligen Verbot zu einer besonders hohen Wirksamkeit verhilft. Allerdings ist nicht jegliches „Mehr an Datenschutz“ immer besonders wirksam im Sinne des „Effet-utile-Prinzips“. Vielmehr muss der spezifische Zweck der jeweiligen Norm besonders wirksam verwirklicht werden.
ff) Mischung verschiedener Auslegungsmethoden
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Weder in der Rechtsprechung des Gerichtshofs noch generell ist es möglich, die Auslegungsmethoden eindeutig zu trennen. Ein Rückgriff auf die Erwägungsgründe kann einerseits einer teleologischen Auslegung dienen, um den Zweck einer Norm zu identifizieren, er mag aber auch Teil einer historischen Auslegung sein, um den historischen Willen des Gesetzgebers zu ermitteln. Darüber hinaus stellt der Gerichtshof seine methodologische Vorgehensweise regelmäßig kaum dar und konzentriert sich stattdessen auf die Ergebnisse der Auslegung.46 Vor diesem Hintergrund bleibt eine wertende Gesamtschau der Ergebnisse der verschiedenen Auslegungsmethoden zwangsläufig notwendig, weshalb es derart schwierig ist, Urteile des Gerichtshofs vorherzusagen.