Praxishandbuch DSGVO. Tobias Rothkegel
seinen jüngeren Entscheidungen hat der Gerichtshof durchgehend eine datenschutzfreundliche Linie verfolgt.47 Bei unklaren Auslegungsergebnissen mag es also für Unternehmen ratsam sein, eher der strengeren Auslegung zu folgen. Allerdings ist es wirtschaftlich manchmal nicht sinnvoll, der strengsten Rechtsansicht zu folgen. Die Entscheidungsfindung ist also schwierig und sollte jedenfalls in grundlegenden Fragen durch die Leitungsebene erfolgen.
Deshalb sollten Unternehmen eigene Positionen zu rechtlichen Fragestellungen entwickeln und diese im eigenen Datenschutzmanagement entsprechend umsetzen.48 Beispielsweise sollten jedenfalls große Unternehmen intern definieren, welche Daten als personenbezogene Daten behandelt werden.
c) Relevanz existierender Rechtsprechung
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Die Rechtsprechung des Gerichtshofs zur DSRL kann nicht unreflektiert auf die DSGVO übertragen werden.
Beispiel
In kurzer Folge hat der EuGH drei viel beachtete Entscheidungen zur gemeinsamen Verantwortlichkeit gefällt49; und zwar bzgl. eines Fanpage-Betreibers und des dazugehörigen sozialen Netzwerks, bzgl. einer Glaubensgemeinschaft und ihren jeweiligen Mitgliedern sowie bzgl. eines Webseitenbetreibers und des Begünstigten eines sog. „Like-Buttons“. Sämtliche Urteile beziehen sich aber noch auf die Rechtslage nach der Datenschutzrichtlinie. Es ist durchaus umstritten, ob die Feststellungen des EuGH ohne weiteres zur Auslegung des Art. 26 DSGVO herangezogen werden können.50
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Allerdings haben die Urteile in vielen Fällen trotzdem eine starke Indikationswirkung dahingehend, dass der Gerichtshof ähnliche Fragestellungen auf gleiche Art und Weise lösen wird. Insbesondere sind Entscheidungen des Gerichtshofs (bzw. EuGH) insoweit übertragbar, wie sie Normen der DSRL betreffen, die sich in identischer oder sehr ähnlicher Weise auch in der DSGVO wiederfinden. Beispielsweise dürften die Ausführungen des Gerichtshofs in seinem „Safe Harbor“-Urteil auch unter der DSGVO weitgehend Gültigkeit bewahren.51
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Auch die bereits dargestellten Referenzen auf die Charta der Grundrechte der Europäischen Union in der jüngeren Rechtsprechung des Gerichtshofs52 haben zur Folge, dass die entsprechenden Urteile grundlegende Erwägungen enthalten, die auch für die DSGVO fortgelten dürften.
2. Auslegung der Begleitgesetze
a) Auslegungsmethoden
aa) Klassische Auslegungsmethoden
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Bezüglich der klassischen Auslegungsmethoden der deutschen Gerichtsbarkeit – nämlich Wortlaut, Systematik, teleologische Auslegung und historische Auslegung – sei auf die existierenden ausführlichen Darstellungen verwiesen.53 Der Kern der Auslegungsmethoden lässt sich unter Ausklammerung der europäischen Besonderheiten auch aus den oben stehenden Ausführungen entnehmen.54
bb) Europarechtskonforme Auslegung
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Im Datenschutzrecht ist außerdem die europarechtskonforme Auslegung von besonderer Bedeutung. Nach ihr sind nationale Gesetze der Mitgliedstaaten derart auszulegen, dass sie dem Unionsrecht nicht widersprechen.55 Diese Auslegungsmethode ist eine Ausprägung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts.
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Im datenschutzrechtlichen Kontext sind die nationalen Datenschutzgesetze stets kritisch darauf zu prüfen, inwiefern sie unionsrechtlichen Vorgaben entsprechen. Das gilt sowohl für das BDSG als auch für Spezialgesetze wie z.B. TKG und TMG.
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Wie allein der Umfang des BDSG veranschaulicht, sieht der deutsche Gesetzgeber neben der DSGVO noch viel Raum für nationale Regelungen. Abgesehen von der Tatsache, dass diese Vorgehensweise das Ziel einer Rechtsharmonisierung in einem derart internationalen Feld wie dem Datenschutz konterkariert und damit volkswirtschaftlich bedenklich ist, bestehen bei diversen Normen auch Zweifel, ob sie europarechtskonform ausgelegt werden können. Schon unter der Datenschutzrichtlinie hat der Gerichtshof deutsche Sonderwege für europarechtswidrig erklärt.56 Es ist zu erwarten, dass der Gerichtshof den neuen Sonderwegen nach Geltung der DSGVO genauso kritisch gegenübersteht.
Beispiel
Ein erstes sehr praxisrelevantes Beispiel ergibt sich hierfür schon aus der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts: Mit Urteil vom 27.3.2019 hat das BVerwG die Videoüberwachung öffentlicher Flächen in einer Zahnarztpraxis für unzulässig befunden.57 Hierbei wenden die Richter i.E. § 4 BDSG nicht an, weil er europarechtskonform teleologisch zu reduzieren sei.58 Dem Wortlaut nach gilt § 4 BDSG für die Videoüberwachung durch öffentliche und private Stellen gleichermaßen. Da die Mitgliedstaaten in Art. 6 Abs. 2, Abs. 3 DSGVO jedoch nur über Öffnungsklauseln verfügen, die sich auf Art. 6 Abs. 1 lit. c DSGVO (rechtliche Verpflichtung) oder Art. 6 Abs. 1 lit. e DSGVO (Wahrnehmung einer Aufgabe, die im öffentlichen Interesse liegt oder in Ausübung öffentlicher Gewalt, die dem Verantwortlichen übertragen wurde) beziehen, verneinte das BVerwG das Vorliegen einer einschlägigen Öffnungsklausel für den Privatbereich. Die Zulässigkeit von Videoüberwachungen durch Private bestimmt sich deshalb nach Art. 6 Abs. 1 lit. f DSGVO.
b) Relevanz existierender Rechtsprechung
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Die zum BDSG a.F. existierende nationale Rechtsprechung kann praktisch nicht auf die neue Rechtslage übertragen werden. Kern des deutschen Datenschutzrechts ist nunmehr mit der DSGVO ein europäischer Rechtsakt, welcher direkt anwendbar ist. Diese Verordnung ist, wie bereits dargelegt,59 vollkommen autonom von nationalen Gesetzen auszulegen.
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Allenfalls im Einzelfall – insbesondere bei den Spezialgesetzen wie dem TMG und dem TKG – mögen Gerichtsentscheidungen weiterhin relevant sein. Das sollte dann aber jeweils gründlich geprüft werden. Insbesondere sind auch diese datenschutzrechtlichen Spezialgesetze nunmehr im Lichte der DSGVO auszulegen, so dass potenziell sogar unveränderte Normen anders zu werten sein können.
15 Siehe beispielsweise zur Reichweite von Öffnungsklauseln oben Rn. 8ff. 16 Siehe zur Bedeutung von Stellungnahmen der Datenschutzbehörden Kap. 16 Rn. 62ff. 17 Siehe zur Rechenschaftspflicht Kap. 4 Rn. 27ff. 18 EuGH, Urt. v. 1.10.2019 – Rs. C-673/17, MMR 2019, 732, 734, Rn. 47 m. Anm Moos/Rothkegel. 19 Dauses/Ludwigs/Pieper, Teil B I Rn. 11, hält sie auch für die wichtigste; Bergmann/Bergmann, Begriff „Auslegung von Unionsrecht“; Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 19 EUV (Lissabon) Rn. 13, und Schwarze/Becker/Hatje/Schoo/Schwarze/Wunderlich, Art. 19 EUV Rn. 36 m.w.N., halten hingegen die teleologische Auslegungsmethode für wichtiger. 20 Dauses/Ludwigs/Pieper, Teil B I Rn. 12; Calliess/Ruffert/Wegener, Art. 19 EUV (Lissabon) Rn. 13. 21 Bergmann/Bergmann, Begriff „Auslegung von Unionsrecht“. 22 Griller/Rill/Streinz, S. 223, 243. 23 Vgl. Calliess/Ruffert/Wegener,