Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz
Der Rechtsvergleichung kommt somit für die Beurteilung dieser Frage eine besondere rechtspraktische Bedeutung zu.151
Auf dieser Grundlage kann ohne Weiteres festgestellt werden, dass den Konventionsstaaten ein weiter Ermessensspielraum bei religiösen Fragen und insbesondere im Hinblick auf das Staatskirchenrecht – das prototypisch für die nationale Diversität in Europa ist – zukommt.152 Insbesondere die Abwägung eines Rechtsguts mit dem kirchlichen Selbstbestimmungsrecht ist unmittelbar mit den staatskirchenrechtlichen Grundentscheidungen einer Rechtsordnung verknüpft, die wiederum auf der spezifischen nationalen historischen Prägung und einer ausdifferenzierten Rechtezuordnung basiert.153 Da das kirchliche Selbstbestimmungsrecht auch der wesentliche Anknüpfungspunkt für ein kirchliches Arbeitsrecht ist, dürfte insbesondere in diesem Bereich eine besondere Zurückhaltung angebracht sein.154 Darüber hinaus ist auch im Speziellen von Bedeutung, ob und inwieweit die nationalen rechtlichen Ausgestaltungen auf dem Gebiet des kirchlichen Arbeitsrechts in Europa divergieren und sich insofern ggf. unterschiedliche Rechtstraditionen ausmachen lassen. Dies wird sich noch im weiteren Verlaufe des (exemplarischen) Vergleichs der deutschen, österreichischen, englischen und französischen Rechtsordnung innerhalb dieser Arbeit herausstellen. Ohne Berücksichtigung dieser konkreten Beurteilungsgrundlage verneinen allerdings verschiedene Stimmen innerhalb der Literatur einen besonderen Beurteilungsspielraum des EGMR bezüglich des kirchlichen Arbeitsrechts wegen des Entgegenstehens wichtiger Individualrechte.155 Dabei spricht vieles dafür, dass diese Auffassung den Aspekt der nationalen Besonderheiten unzulässigerweise übergeht.
Für einen weiten Beurteilungsspielraum staatlicher Gerichte im Zusammenhang des kirchlichen Arbeitsrechts lässt sich darüber hinaus ein weiteres Kriterium anführen. Eine geringere Kontrolldichte der Abwägungsentscheidung ist auch in den Fällen der Prüfung staatlicher Gewährleistungspflichten zu nennen, die im Rahmen mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse betroffen sind.156 Daraus folgt in Abgrenzung zu einer umfassenden Rechtmäßigkeitskontrolle eher eine „Vertretbarkeitskontrolle“, die der einzelstaatlichen Gewichtungsbeurteilung größere Freiheit einräumt. Dies lässt sich auch aus dem Günstigkeitsprinzip des Art. 53 EMRK ableiten, nach dem keine Regelung der EMRK dahingehend ausgelegt werden darf, dass sie eine in einem nationalen Gesetz festgelegte Grundfreiheit mindert.157 Bedauerlicherweise scheint dem EGMR aber insofern eher das Selbstverständnis einer „Superrevisionsinstanz“158 zu eigen zu sein, da er dazu neigt, auch in mehrpoligen Rechtsverhältnissen das Schema einer umfassenden Abwägungsprüfung wie bei einer bipolaren Rechtsverletzung anzuwenden.159 Diese Tatsache ist äußerst kritisch zu beurteilen.
2. Gemeinschaftsrecht
Eine unmittelbare staatskirchenrechtliche Kompetenz der EU besteht – wie bereits erwähnt – nicht. Insbesondere die in jüngerer Vergangenheit verabschiedete Charta der Grundrechte der Europäischen Union ist aber geeignet, Auswirkungen auf das nationale kirchliche Arbeitsrecht zu entfalten. Daneben stellt im europäischen Sekundärrecht die Gleichbehandlungsrahmenrichtlinie 2000/78/EG die für die kirchlichen Arbeitgeber mit großem Abstand folgenreichste Regelung dar. Insbesondere in diesem Zusammenhang bedürfen schließlich auch die im Primärrecht enthaltenen Aussagen über den Status der Kirchen in der EU nach Art. 17 AEUV einer kurzen Analyse.
a) Charta der Grundrechte der Europäischen Union
Die Transformation der EU von einer Union gemeinsamer Wirtschaftspolitik hin zu einer Grundrechtsgemeinschaft160 findet ihren bisherigen Höhepunkt durch die im Rahmen des Vertrags von Lissabon in Kraft getretene Charta der Grundrechte der Europäischen Union (GRCh). Nach Art. 6 Abs. 1 UAbs. 1 EUV erkennt die EU die Rechte, Freiheiten und Grundsätze an, die in der Grundrechte-Charta niedergelegt sind und bestimmt deren Gleichrangigkeit mit den Verträgen. Die GRCh hat infolgedessen den Rang von Primärrecht und geht sämtlichem europäischem Sekundärrecht vor.161
Der Anwendungsbereich der GRCh bezieht sich für die Mitgliedstaaten nach Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh ausschließlich auf die Durchführung des EU-Rechts.162 Daraus folgt, dass die GRCh auch im innerstaatlichen Bereich rechtliche Wirkung entfaltet, sofern staatliche Institutionen Vorgaben des Gemeinschaftsrechts umsetzen oder nationales Recht anwenden, das auf Europarecht beruht. Es kommt zu einer „mittelbaren Horizontalwirkung“ der Grundrechte, die durch die Verpflichtung des Staates – etwa ein Gericht – Rechtsfolgen in Privatrechtsverhältnissen entfaltet.163 Dementsprechend ist die GRCh auch auf sämtliches Sekundärrecht und die entsprechenden Umsetzungsakte anwendbar, die das kirchliche Arbeitsrecht erfassen.164 Dies gilt insbesondere für das im Anwendungsbereich der Richtlinie 2000/78/EG normierte Antidiskriminierungsrecht.165 Dabei kommt dem in Art. 21 GRCh geregelten allgemeinen Diskriminierungsverbot besondere Bedeutung zu.
Aus dem limitierten Anwendungsbereich von Art. 51 Abs. 1 S. 1 GRCh folgt, dass der materielle Gehalt von nationalen kirchenarbeitsrechtlich relevanten Rechtsnormen, die keinen Bezug zum Unionsrecht aufweisen, auf nationaler Ebene nicht an der Grundrechtecharta zu messen ist. Dies gilt etwa für die Auslegung der „sozialen Rechtfertigung“ nach § 1 KSchG und des „wichtigen Grundes“ gemäß § 626 BGB.166 Darin liegt ein wesentlicher Unterschied zum umfassenden Anwendungsbereich der EMRK. Auch die individuelle Rechtsdurchsetzung auf Grundlage der GRCh ist eingeschränkt. Eine Grundrechtsbeschwerde zum EuGH – entsprechend der Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK zum EGMR – existiert nicht. Eine prozedurale Durchsetzung der EU-Grundrechte ist im Wesentlichen nur dann möglich, wenn ein nationales Gericht eine Vorlagefrage i.S.v. Art. 267 AEUV an den EuGH richtet.167 In materieller Hinsicht ist das Verständnis der GRCh maßgeblich durch die EMRK geprägt, die als gesamteuropäischer Mindeststandard Grundlage für die Charta der Grundrechte der EU ist.168 So haben nach Art. 52 Abs. 3 S. 1 GRCh die Rechte der Charta, die denjenigen der EMRK entsprechen, die gleiche Bedeutung und Tragweite, wie sie ihnen in der Konvention verliehen wird. Zudem wird in Abs. 5 der Präambel der GRCh auch die Rechtsprechung des EGMR als mitkonstituierendes Element des Inhalts der Unionsgrundrechte genannt. Insofern kann hinsichtlich der EMRK und GRCh eine „Parallelität der Grundrechtsordnungen“169 konstatiert werden. In concreto kommt dies durch eine erhebliche inhaltliche Konvergenz verschiedener Grundrechte zum Ausdruck: Art. 8 EMRK ist die Basis für die Gewährleistung der Achtung des Privat- und Familienlebens nach Art. 7 GRCh.170 Auch der Schutz der Religionsfreiheit gemäß Art. 10 GRCh entspricht im Wesentlichen Art. 9 EMRK.171 Daher vermag es nicht zu überraschen, dass auch in Art. 10 GRCh angesichts der Vielzahl der unterschiedlichen Staatskirchensysteme innerhalb der EU keine ausdrückliche Verankerung eines kirchlichen Selbstbestimmungsrechts vorgenommen wurde.172 Die auf dieser eher unzureichenden Grundlage gewährleistete Reichweite des kirchlichen Selbstbestimmungsrechts orientiert sich daher an den vorangegangen Ausführungen zu Art. 9 EMRK. In Anbetracht dessen kann der GRCh ein Schutz kirchlicher Autonomie nach deutschem Vorbild nicht entnommen werden.173 Zwar ist auch im Hinblick auf die Unionsgrundrechte der Schutz des Mindeststandards nach Art. 53 GRCh174 zu beachten, nach dem die europäischen Grundrechte nicht in einer Weise ausgelegt werden dürfen, dass der einzelstaatliche Grundrechtsschutz geschmälert wird (negative Abschirmung). In mehrpoligen Grundrechtsverhältnissen ist dies freilich wenig hilfreich, da der Schutz der kirchlichen Selbstbestimmung nach deutschem Recht dem Anwendungsvorrang des konfligierenden Grundrechts aus der GRCh ausgesetzt wäre.175 Eine abweichende Beurteilung kann jedoch aus Art. 17 Abs. 1 AEUV folgen, dessen rechtlicher Gehalt nachfolgend noch erörtert wird.
Abschließend bleibt jedenfalls festzustellen, dass durch die Parallelität von EMRK und GRCh mittelbar die Rechtsprechung des EGMR zum kirchlichen Arbeitsrecht, die wesentlich auf Art. 8, 9 EMRK beruht, auch im Zusammenhang mit der Effektuierung der entsprechenden Rechte aus der GRCh Relevanz entfalten wird. Dabei wird aber vor allen Dingen in langfristiger Perspektive kein vollständiger Auslegungsgleichlauf durch die beiden Rechtsprechungsorgane aus Straßburg und Luxemburg zu erwarten sein.176 Zwar fungiert die EMRK als Auslegungshilfe, der EuGH wird aber künftig autonom Rechtsfortbildung