Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz
Ansicht des EGMR begründe das Recht auf Religionsfreiheit die legitime Erwartung, „dass die Religionsgemeinschaft friedlich und frei von willkürlicher staatlicher Einmischung operieren dürfe“.125 Dies folge auch aus einer Auslegung des Grundrechts im Lichte der Vereinigungsfreiheit aus Art. 11 EMRK.126 Ferner findet sich in den einschlägigen Urteilen die elementare Feststellung, dass die Autonomie von Religionsgemeinschaften unverzichtbar sei für das Ziel der Konvention, den Pluralismus in einer demokratischen Gesellschaft zu sichern und diese daher zum Wesensgehalt von Art. 9 EMRK gehöre.127 Dennoch legte der EGMR den Schutzbereich – wohl auch infolge der individualrechtlichen Konzeption der Gewährleistung – zunächst eher eng aus und beschränkte ihn auf einen Kernbereich kirchlicher Angelegenheiten. Entsprechend habe das Selbstbestimmungsrecht vor allen Dingen etwa das Recht der Religionsgemeinschaften zur Folge, ihr Führungspersonal und ihre Geistlichen eigenständig zu berufen, sowie eigene Wahlen abzuhalten.128 Erst in jüngerer Zeit anerkannte der EGMR im Zusammenhang der Überprüfung von Judikaten deutscher Gerichte zum kirchlichen Arbeitsrecht, dass ebenso auch die Freiheit der Kirchen, ihre dienst- und arbeitsrechtlichen Angelegenheiten selbstbestimmt an den eigenen Glaubensüberzeugungen auszurichten, von Art. 9 EMRK umfasst sei.129 Damit hat der EGMR den wesentlichen Schritt vollzogen, damit auch ein Recht auf ein spezifisch kirchliches Arbeitsrecht seine Grundlage in der Menschenrechtskonvention finden kann.
Dennoch ist der einhelligen Meinung in der Literatur darin zuzustimmen, dass Art. 9 EMRK keinen dem deutschen kirchlichen Selbstbestimmungsrecht aus Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV entsprechenden Standard zu vermitteln in der Lage ist.130 Dies folgt schon aus der durch die Konstruktion des Art. 9 EMRK vermittelten Akzentuierung des Individualrechts und der kasuistischen Herangehensweise des EGMR, sodass ein wie von Art. 137 Abs. 3 WRV gewährtes, verlässliches dogmatisches Fundament wohl niemals wird etabliert werden können. Diese Defizite lassen sich auch nicht durch die Argumentation kompensieren, der EGMR müsse sich am deutschen „Maximalstandard“ hinsichtlich der kirchlichen Selbstbestimmung orientieren.131 In Anbetracht dieses Befunds ist die spezifische „Herausforderung“ des deutschen kirchlichen Arbeitsrechts durch die EMRK zu erblicken, welche infolge ihres geringeren Schutzumfangs hinsichtlich der institutionellen Rechtsstellung der Kirchen allenfalls eine Beschränkung deren Freiheiten im Arbeitsrecht – keinesfalls aber eine Erweiterung – herbeiführen kann.
c) Die Abwägung der betroffenen Grundrechtspositionen
Zur Klärung der zulässigen Reichweite von kirchenarbeitsrechtlichen Besonderheiten nach den Maßstäben der Menschenrechtskonvention ist eine Abwägung der Rechte der betroffenen Arbeitnehmer mit den Rechten der Kirchen als Arbeitgeber vorzunehmen.132 Da die Rechtfertigungserfordernisse der sich gegenüberstehenden Gewährleistungen von kirchlichen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Wesentlichen kongruieren, genügt nachfolgend eine verallgemeinernde Darstellung, in deren Rahmen die einzelnen, sich gleichenden Prüfungspunkte zusammengefasst werden.133
aa) Die Eingriffsrechtfertigung
Ein Eingriff in den Schutzbereich der Art. 8 bis 11 EMRK kann nach deren jeweiligem in materieller Hinsicht ähnlichen Absatz 2 gerechtfertigt sein, wenn die Einschränkung gesetzlich vorgesehen und in einer demokratischen Gesellschaft zum Schutz bestimmter enumerativ aufgezählter Rechtsgüter notwendig ist. Dabei ist das formale Erfordernis einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage nicht eng zu verstehen, da insoweit ein Gesetz im materiellen Sinne gemeint ist und somit auch Richter- und Gewohnheitsrecht als ausreichend erachtet werden.134 Auch der weitere Prüfungsschritt der Einschränkung zum Schutz eines bestimmten Rechtsguts stellt in der Rechtsprechungspraxis infolge der semantischen Offenheit der möglichen Eingriffsziele kein besonderes Hindernis dar;135 dies kann als gewisse Betonung der Eigenverantwortlichkeit der Konventionsstaaten verstanden werden.136 So wird etwa der in Art. 9 Abs. 2 EMRK genannte Schutz der Rechte und Freiheiten Anderer als Generalklausel für sämtliche gesetzlich eingeräumten Rechte Dritter verstanden.137 Dies können etwa die Grundrechte kirchlicher Arbeitnehmer sein.138 Dieser Ansatz weicht erheblich von der Konzeption des Schrankenvorbehalts des „für alle geltenden Gesetzes“ im Rahmen des deutschen kirchlichen Selbstbestimmungsrechts nach Art. 140 GG i.V.m. Art. 137 Abs. 3 WRV ab.139
Das zentrale Prüfungskriterium für die Rechtmäßigkeit des Eingriffs ist vielmehr im Erfordernis der „Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft“ zu erblicken. Daraus leitet der EGMR insbesondere eine Verhältnismäßigkeitskontrolle des Eingriffs ab, die sich in einem umfassenden Abwägungsvorgang niederschlägt.140 Da aber die einzelnen nationalen Ansichten innerhalb der EU über die Notwendigkeiten in einer demokratischen Gesellschaft differieren können, besteht zugunsten der Mitgliedstaaten in Abhängigkeit des betroffenen Lebensbereichs und Grundrechts ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum (margin of appreciation) hinsichtlich der Gewichtung der entgegenstehenden Interessen, der sich konkret in einer Reduzierung der Kontrolldichte innerhalb der Abwägung durch den EGMR niederschlägt. Ist in Anwendung dessen im Einzelfall eine niedrigere Kontrolldichte maßgeblich, erhöht sich auf diese Weise die Wahrscheinlichkeit der Rechtmäßigkeit des Eingriffs.
bb) Margin of appreciation – Einschränkung der Kontrolldichte
Die in ständiger Rechtsprechung anerkannte margin of appreciation141 ist eines der wesentlichen Prinzipien, das der EGMR bei der Interpretation der EMRK anwendet.142 Dies ermöglicht insbesondere eine Berücksichtigung der aus den langen Rechtstraditionen der einzelnen Konventionsstaaten stammenden nationalen Besonderheiten. Darin kommt zum Ausdruck, dass eine vollständige Homogenisierung aller Rechtsverhältnisse innerhalb der Konventionsstaaten vielfach mit deren verschiedenartigen historischen, kulturellen und sozialen Prämissen in Konflikt geraten würde und eine derartige radikale Vereinheitlichung die gesellschaftliche und politische Akzeptanz einer gesamteuropäischen Einigung unterminieren könnte. Entsprechend erachtet der EGMR die staatlichen Entscheidungsträger aufgrund deren unmittelbaren und kontinuierlichen Kontakts mit den elementaren Kräften ihrer Länder unter bestimmten Voraussetzungen in der besseren Position, um den genauen Inhalt der Gewährleistungen zu bestimmen.143 Dass auch der Europarat einen solchen „Puffer“ als essentiell für die langfristige Erhaltung seines supranationalen Projekts ansieht, kommt auch durch das Zusatzprotokoll XV zur EMRK vom 24. Juni 2013 zum Ausdruck, das die Doktrin der margin of appreciation der Präambel hinzufügt.144 Mit Inkrafttreten145 des Protokolls wird ihre normative Anerkennung erfolgen, infolgedessen ihr in Zukunft eine noch höhere Relevanz zukommen sollte. Jedenfalls sollte der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum spätestens damit aufgrund dieses ausdrücklichen Bekenntnisses nicht mehr lediglich als „Lippenbekenntnis“146 einzuschätzen sein.
Zur Bestimmung des Umfangs dieses Spielraums und der damit verknüpften, vom EGMR im Einzelfall praktizierten Kontrolldichte, sind verschiedene Faktoren zu berücksichtigen.147 Dabei ist unter anderem erheblich, welche Grundrechtsgewährleistung im Einzelfall tangiert ist. Eine höhere Kontrolldichte folgt danach insbesondere bei besonders bedeutsamen Grundrechtspositionen im Zusammenhang mit Art. 8 EMRK, die eine hohe Relevanz für die Existenz oder Identität einer Person haben.148 Dieser Aspekt kommt auch im kirchlichen Arbeitsrecht zum Tragen, wenn etwa arbeitsrechtliche Sanktionen aufgrund der praktizierten Homosexualität eines Mitarbeiters erfolgen. Dabei ist allerdings zu berücksichtigen, dass die entsprechenden Urteile des EGMR einen Eingriff von staatlichen Autoritäten in den Schutzbereich der Gewährleistung hatten und kein mehrpoliges Grundrechtsverhältnis zugrunde lag.
Auf der anderen Seiten verringert sich die Kontrolldichte insbesondere dann, wenn kein einheitlicher europäischer Standard (common ground) bei der Beurteilung einer bestimmten Rechtsfrage gegeben ist.149 Danach sinkt die Kontrolldichte in umso größerem Umfang, je heterogener eine bestimmte Angelegenheit durch die einzelnen Mitgliedstaaten rechtlich behandelt wird. Entscheidend ist somit,