Kirchliches Arbeitsrecht in Europa. Florian Scholz
durch den Human Rights Act 1998 nur auf der normenhierarchischen Position des Gesetzesrechts.86 Auch in Deutschland kommt der EMRK entsprechend ihrer Umsetzung nach Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG in formaler Hinsicht nur der Rang eines Bundesgesetzes zu.87 Dementsprechend ist die Menschenrechtskonvention innerhalb der deutschen Rechtsordnung kein unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab.88 Das Grundgesetz genießt gegenüber der EMRK normenhierarchisch den höheren Status und unterwirft sich nicht gegenüber nichtdeutschen Hoheitsakten.89
Allein auf Grundlage dieser Prämissen ließe sich aber ihre besondere Bedeutung für das deutsche Recht noch nicht ableiten. Diese folgt vielmehr daraus, dass nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts das gesamte nationale Recht einschließlich des Grundgesetzes völkerrechtsfreundlich ausgelegt werden muss.90 Entsprechend dieses Grundsatzes haben die an Art. 20 Abs. 3 GG gebundenen deutschen Gerichte die EMRK und die zu ihr vom EGMR ergangene Rechtsprechung bei der Interpretation der Grundrechte und der einfachen Gesetze im Rahmen methodisch vertretbarer Auslegung schonend in das vorhandene, dogmatisch ausdifferenzierte nationale Rechtssystem einzupassen.91 Diesem Erfordernis wird ein nationales Gericht gerecht, indem es die streitrelevanten Konventionsrechte im Sinne einer gebührenden Auseinandersetzung in die Entscheidungsfindung einbezieht.92 Damit erhält die EMRK in Gestalt der Auslegung durch die Rechtsprechung des EGMR eine „normative Leitfunktion“93 für das deutsche Recht. Allerdings erfährt der auf diese Weise konkretisierte Grundsatz der völkerrechtsfreundlichen Auslegung insbesondere dann eine Begrenzung, sofern der Grundrechtsschutz des Grundgesetzes eingeschränkt würde.94 Dazu kann es insbesondere im Rahmen der mehrpoligen Grundrechtsverhältnisse der kirchlichen Arbeitsverhältnisse kommen, bei denen der Zugewinn an Freiheit des einen Grundrechtsträgers zugleich eine Einbuße des anderen darstellt.95
Auf der Ebene des Rechts der Europäischen Union entfaltet die EMRK hingegen bislang mangels Inkorporation (noch)96 keine unmittelbare Wirkung.97 Doch nach Art. 6 Abs. 3 EUV sind die Grundrechte, wie sie in der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten gewährleistet sind, als allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Daraus folgt ihr Status als Rechtserkenntnisquelle.98 Entsprechend hat sich der EuGH in der Vergangenheit häufig auf die EMRK bezogen und dabei auch die Rechtsprechung des EGMR zugrunde gelegt.99 Im Sinne einer Reziprozität zieht auch der EGMR zuweilen die Rechtsprechung des EuGH heran.100 Seit dem Inkrafttreten der europäischen Grundrechtecharta dürfte die EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung des EGMR allerdings in ihrer Bedeutung als Erkenntnisquelle für europäisches Recht dezimiert worden sein.101
a) Relevante Grundrechtspositionen kirchlicher Arbeitnehmer
Insbesondere im Zusammenhang mit der Personalauswahl und bei der Kündigung aufgrund eines Loyalitätsobliegenheitsverstoßes kann es zum Konflikt mit den aus der EMRK folgenden Grundrechten der kirchlichen Arbeitnehmer kommen. Die größte Relevanz kommt insofern dem Schutz des Privat- und Familienlebens aus Art. 8 EMRK und der individuellen Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK zu. Zur Wahrung eines angemessenen Darstellungsumfangs wird nachfolgend auf die Erörterung der in diesem Zusammenhang durchaus auch bedeutsamen Gewährleistungen der Meinungsfreiheit (Art. 10 EMRK), des Rechts auf Eheschließung (Art 12 EMRK) sowie des Diskriminierungsverbots (Art. 14 EMRK) verzichtet.102
aa) Der Schutz des Privat- und Familienlebens, Art. 8 EMRK
Infolge seines weitreichenden Schutzbereichs kann Art. 8 EMRK als das ganz zentrale Grundrecht zum Schutz insbesondere auch von Arbeitnehmern angesehen werden. Neben dem Schutz des Einzelnen vor staatlichen Eingriffen beinhaltet es auch die Gewährleistungspflicht (positive obligation)103 eines Konventionsstaates, die Rechte eines Arbeitnehmers auf Achtung seines Privat- und Familienlebens gegenüber seinem Arbeitgeber zu schützen.104 Dabei wird der große Anwendungsbereich insbesondere des Rechts auf Achtung des Privatlebens bereits durch seine Auffangfunktion deutlich.105 Eine Definition des Begriffs hat der EGMR allerdings nicht vorgenommen, da dies weder möglich noch notwendig sei.106 Anknüpfungspunkt der Garantie ist jedenfalls die Autonomie des Individuums und sein Recht auf Selbstbestimmung.107 Demzufolge ist nach ständiger Rechtsprechung des EGMR jedenfalls auch der innere Bereich der Persönlichkeitssphäre bis hin zum Sexualleben und der sexuellen Orientierung geschützt.108 Auch der Begriff des Familienlebens ist weit zu verstehen: Über die eheliche Verbindung hinaus sind auch nichteheliche Lebensgemeinschaften vom Schutzbereich erfasst.109 Besteht eine derartige Verbindung, werden die Familienmitglieder darin geschützt, ihr Leben miteinander zu führen und persönlichen Kontakt zueinander halten zu können.110
Insofern wird bereits durch einen kurzen Aufriss des Schutzumfangs von Art. 8 EMRK deutlich, dass nachteilige Maßnahmen gegenüber einem kirchlichen Arbeitnehmer aufgrund dessen sexueller Orientierung, wegen einer außer- oder unehelichen Beziehung oder einer Wiederheirat nach Scheidung den Schutzbereich von Art. 8 EMRK verletzen können.111
bb) Die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Art. 9 EMRK
Eine große Bedeutung für kirchliche Arbeitsverhältnisse erlangt freilich auch die individuelle Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK. Sie schützt die innere Überzeugung einer Person und das Annehmen einer Religion (forum internum), deren Bekenntnis bzw. Ausübung nach außen (forum externum), als auch die negative Religionsfreiheit.112 Insofern weist die Gewährleistung ganz erhebliche Übereinstimmungen mit dem Schutzbereich von Art. 4 Abs. 1, 2 GG auf.113 Demnach kann auch weitestgehend auf das entsprechende deutsche Grundrechtsverständnis zurückgegriffen werden, wobei allerdings zu berücksichtigen ist, dass der Religionsfreiheit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts unter anderem infolge ihrer im Grundgesetz vorbehaltlosen Gewährleistung meist ein höherer Stellenwert als durch den EGMR beigemessen wird.114
Wie im Rahmen von Art. 8 EMRK verpflichtet auch die Religionsfreiheit aus Art. 9 EMRK den Staat zu positivem Schutz.115 Dementsprechend ist die Anwendbarkeit von Art. 9 EMRK eröffnet, sofern ein kirchlicher Arbeitnehmer arbeitsrechtlichen Sanktionen aufgrund seines Kirchenaustritts oder wegen des Werbens für eine andere Religionsgemeinschaft ausgesetzt ist.116 Dies gilt freilich auch, wenn einem Bewerber aus den gleichen Gründen eine Einstellung versagt wird.
b) Die durch Art. 9 EMRK vermittelte Rechtsposition der Kirchen
Die konventionsrechtliche Etablierung einer Rechtsposition der Kirchen im Sinne einer korporativen Religionsfreiheit findet in Art. 9 EMRK ihren einzigen denkbaren Anknüpfungspunkt. Dabei ergibt sich allerdings die Schwierigkeit, dass die Stellung der Kirchen in den einzelnen Rechtsordnungen der Konventionsstaaten erheblich divergiert und bereits aus diesem Grund eine umfassende, vereinheitlichende Regelung ihres grundrechtlichen Status zugleich das institutionelle Verhältnis von Staat und Kirche beeinflusst hätte.117 Infolgedessen fällt bereits bei einer nur oberflächlichen Betrachtung der Gewährleistung des Art. 9 EMRK118 auf, dass dessen Wortlaut keine explizite Garantie korporativer Religionsfreiheit enthält.119 Dennoch hat bereits die Europäische Kommission für Menschenrechte (EKMR) anerkannt, dass auch eine Religionsgemeinschaft eigene Rechte aus der Gewährleistung im Zusammenspiel mit Art. 34 EMRK geltend machen kann.120 Trotz jener Zuerkennung einer Klagebefugnis (sog. „victim-Status“) sowie einer eigenen Grundrechtsfähigkeit war aber für lange Zeit unklar, ob und in welcher Form ein kirchliches Selbstbestimmungsrecht vom kollektiven Aspekt der konventionsrechtlichen Religionsfreiheit umfasst ist.121
Spätestens122 durch die wegweisende Entscheidung in der Sache Hasan und Chaush/Bulgarien hat der EGMR aber die grundlegende Autonomie von Religionsgemeinschaften gegenüber staatlichen Eingriffen anerkannt.123