Gesellschaftsrecht II. Recht der Kapitalgesellschaften. Ulrich Wackerbarth
Muttergesellschaft) bereits tatsächlich durchgesetzt. Das Geschäft wird im Beispiel tatsächlich mit der Mutter zustande kommen, auch wenn es der Vorstand nach den konkreten Umständen eher für die Tochter hätte abschließen müssen (vgl. zur sog. Geschäftschancenlehre Rn. 72 ff.). Hätte er letzteres getan, hätte auch die 40 %ige Minderheit in der Tochter von diesem Geschäft profitiert. Stattdessen geht sie leer aus.
d) Ebenso das juristische Spezialistentum
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Die Vielzahl von Gesetzen führt auch dazu, dass sich zu jedem Rechtsgebiet Spezialisten herausbilden, Menschen also, die Experten nur für ihren eigenen Rechtsbereich sind und oft über den Tellerrand nicht hinausblicken. Jeder hält sich selbst für den wichtigsten Experten und sein Spezial-Rechtsgebiet für das allein selig machende.
Es gibt also Bilanzrechtler, Insolvenzrechtler, Gesellschaftsrechtler, nicht zu vergessen die Kapitalmarktrechtler: keiner weiß noch genau, was der jeweils andere tut. Insbesondere die Bilanzrechtler haben den Zweck des Bilanzrechts für sich umdefiniert, so dass es seine Hilfsfunktion für den Gläubigerschutz im Gesellschaftsrecht nicht mehr erfüllen kann.
Beispiel:
Wenn eine neu entwickelte Horizontalbohrmaschine aus Sicht des Kaufmanns bilanziert wird, liegt ihr Wert, da die Maschine für das Unternehmen wichtig ist, vielleicht bei 100.000 €. Wenn sie dagegen aus Sicht der Gläubiger bewertet wird, hat sie, da sie auf dem Gütermarkt nicht veräußerbar ist, vielleicht allenfalls Schrottwert.
In wessen Interesse muss der Kaufmann nun aufschreiben, welchen Wert die Maschine hat? Im Gläubigerinteresse, damit nicht Vermögen beiseite geschafft werden kann? Das könnte man vielleicht annehmen – die Realität sieht anders aus (vgl. unten Rn. 243 ff.).
2. Die Rolle der Wissenschaft
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Wissenschaftler und Studierende mit begrenztem Aufnahmevermögen dürfen an der unüberschaubaren Vielzahl von Details und an den Spezialisten nicht verzweifeln. Zwar können diese sich die anfallende Arbeit teilen, der Studierende und der Wissenschaftler sind dagegen fast immer allein und auf sich gestellt. Ein Vorteil der Wissenschaft aber ist es, sich nicht fortlaufend mit alltäglichen, intensive Detailarbeit erfordernden Problemen beschäftigen zu müssen, sondern den Blick auf dahinter liegende Strukturfragen, d. h. auf sich wiederholende Abläufe und Prinzipien richten zu können und eine gewisse Übersicht über die Zusammenhänge erreichen zu können. Diese Übersicht befähigt dann auch später zur Analyse von Detailfragen, während sich die arbeitsteiligen Organisationen in solchen Detailfragen durchaus verlieren können.
3. Schlussfolgerungen
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Wegen der eben genannten Tatsachen richtet dieses Werk den Blick nur auf ausgewählte Detailfragen. Denn dieses Buch ist nicht als Kommentar zum Kapitalgesellschaftsrecht gedacht, sondern will ein Verständnis für die Probleme vermitteln. Daher wird der Schwerpunkt auf die Funktion des Kapitalgesellschaftsrechts in seiner Einbindung in andere Rechtsgebiete gelegt. Es wird namentlich versucht darzustellen, wie unternehmerische Macht im deutschen Recht ausbalanciert wird oder werden kann. Im Vordergrund stehen deshalb die tatsächlichen und wirtschaftlichen Folgen einzelner rechtlicher Institutionen des Kapitalgesellschaftsrechts. Das Weglassen vieler Details heißt allerdings nicht, dass die Themen rein abstrakt behandelt werden. Eine Vorstellung der rechtlichen und ökonomischen Probleme des Kapitalgesellschaftsrechts kann man sich im Gegenteil nur dann bilden, wenn man die handelnden Akteure und den konkreten Sachverhalt „vor dem geistigen Auge“ hat und ihre Reaktionen (häufig Ausweichreaktionen auf nicht genehme Rechtsregeln) psychologisch nachvollziehen kann.
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Wirtschaftsrecht hat eine Menge mit Psychologie zu tun. Insbesondere aus rechtspolitischer Sicht, d. h. bei der Abfassung neuer Regeln durch den Gesetzgeber oder bei rechtsfortbildenden Entscheidungen der Gerichte, stellt sich stets die Frage, wie die Handelnden auf eine Rechtsänderung reagieren werden. Die vorauszusehende Reaktion der Rechtsunterworfenen muss in die neu zu findende Regel mit eingeplant werden, damit sie funktionieren kann. Angesprochen ist damit das sogenannte konsequentialistische Denken, auch folgenorientiertes oder funktionales Denken genannt.
Kapitalgesellschaftsrecht ist in der heutigen Zeit immer mehr – und insofern dem Arbeitsrecht immer ähnlicher – auch Richterrecht. Deshalb wird auch ein Schwerpunkt auf die Entwicklung des Rechts durch die Rechtsprechung gelegt, die häufig dort eingreift, wo der Schutz bestimmter Akteure durch geschriebenes Recht versagt: Z.B. stellt das Recht der Haftung für existenzvernichtende Eingriffe (Rn. 314 ff.) eine Reaktion der Rechtsprechung auf für zu starr empfundene geschriebene Regeln des Kapitalerhaltungsrechts dar. Manchmal reagiert der Gesetzgeber seinerseits wieder auf die Rechtsprechung (Rn. 328), diesen „Dialog“ zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung gilt es zu sehen.
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Das vorliegende Werk will zur Verminderung der Komplexität beitragen, indem eine teils „gesetzesübergreifende Betrachtung“ angestellt wird, die den Überblick über das Recht der Kapitalgesellschaften vermitteln soll. Daher geht dieses Buch über das Aktien oder GmbH-Gesetz einerseits hinaus und bezieht wichtige andere Gesetze wie die InsO, das HGB und das WpHG mit ein. Andererseits setzt die Darstellung auch einen besonderen Schwerpunkt auf die bereits gegründete und unternehmerisch tätige Kapitalgesellschaft. Nicht dargestellt wird insbesondere das Recht der Aufbringung des Kapitals[3] mit den „Spezialproblemen“ der sog. verdeckten Sacheinlage.[4] Es fehlen auch nähere Ausführungen zum Recht der Kapitalerhöhung und -herabsetzung.[5] Ferner werden Fragen des Umwandlungsrechts und der Unternehmensmitbestimmung nicht behandelt. Auch die neu geschaffenen „europäischen Rechtsformen“ (societas europaea[6] und societas privata europaea, letztlich Abwandlungen der AG und der GmbH) sowie die „Kommanditgesellschaft auf Aktien“ (KG a. A.) bleiben außen vor. Wenn man die hier behandelten Schwerpunkte des Kapitalgesellschaftsrechts tatsächlich verstanden hat, wird man sich ohne Mühe anhand der jeweiligen Kommentare auch in die nicht behandelten Fragen einarbeiten können. Vor allem dazu soll das Buch befähigen.
Teil 1 Einleitung › § 1 Unternehmens- und Gesellschaftsrecht im System des Rechts › II. Was ist Unternehmensrecht?
II. Was ist Unternehmensrecht?
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Vom Standpunkt des Unternehmers aus betrachtet, wirkt das Recht im Wesentlichen folgendermaßen auf ihn ein (in alphabetischer Reihenfolge):
Das Arbeitsrecht als eigenes Gebiet beschränkt die Macht des Unternehmers gegenüber den bei ihm angestellten Personen. Das Bilanzrecht zwingt ihn, seine Bücher ordnungsgemäß zu führen und die einzelnen abgeschlossenen Geschäfte aufzuschreiben. Geht es mit seinen Geschäften bergab, sorgt das Insolvenzrecht dafür, dass die Gläubiger gleichbehandelt werden und ihm die Kontrolle über sein Unternehmen entzogen und auf den Insolvenzverwalter übertragen wird. Ist der Unternehmer eine börsennotierte AG, so zwingt ihn das Kapitalmarktrecht zur Publizität, er muss seine Geschäfte nicht nur aufschreiben, sondern regelmäßig auch die Aktionäre und potentiellen Anleger informieren, etwa in Form von Ad-hoc-Meldungen nach dem WpHG oder durch Prospekte bei der Ausgabe von Aktien (WpPG, BörsG). Insbesondere das sogenannte Insiderhandelsverbot und das Übernahmerecht (WpÜG) haben auch gesellschaftsrechtliche Funktionen. Jeder Unternehmer muss Steuern bezahlen