Gesellschaftsrecht II. Recht der Kapitalgesellschaften. Ulrich Wackerbarth
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Das Problem dabei ist, dass einzelne Entscheidungen und Handlungen des Unternehmers Rechtsfragen in unterschiedlichen Gebieten aufwerfen und die verschiedenen Rechtsgebiete untereinander nicht selten schlecht abgestimmt sind.
Beispiel:
Wer einen Alleinvertriebsvertrag mit einem Zulieferer abschließt, unterliegt sowohl den zivilrechtlichen Regeln über den Vertragsschluss, muss gleichzeitig überlegen, ob der Vertrag nicht gegen das Kartellrecht verstößt, und die aus dem Vertrag resultierenden Folgen müssen ordentlich bilanziert werden.
Auch wenn sich der Unternehmer Geld aus dem Unternehmensvermögen herausnimmt und anschließend das Unternehmen seine Schulden nicht mehr bezahlen kann, fragen die Gläubiger nach ihrem Schutz. Dieser Schutz findet sich – leider – auf unterschiedlichen, nicht ausreichend miteinander verzahnten Rechtsgebieten. Einmal sind die Gläubiger durch das Bilanzrecht und kapitalmarktrechtliche Veröffentlichungspflichten, d. h. durch Information geschützt. Wenn der Unternehmer die beschriebene Entnahme veröffentlichen musste und dies auch getan hat, so kann das Recht möglicherweise den Gläubigern sagen: Ihr hättet ja mit dem Unternehmer keine Geschäfte machen müssen, weil ihr sehen konntet, dass er seinen Verpflichtungen nicht würde nachkommen können (das wäre Gläubigerschutz über Information).
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Weiter kann das Gesetz aber auch anordnen, dass der Unternehmer das Geld, das er kurz vor der Insolvenz beiseite geschafft hat, wieder zurückgeben muss (das ist die sog. paulianische Anfechtung im Insolvenzrecht, davon wird noch die Rede sein). Kapitalgesellschaftsrechtlich hat der Gesetzgeber noch darüber hinaus einen Rückerstattungsanspruch (Recht der Kapitalerhaltung) vorgesehen, wenn durch die Geldentnahme das Unternehmen zwar noch nicht insolvent war, aber bereits weniger Vermögen hatte als vom Unternehmer versprochen (sog. Unterbilanz, auch davon wird noch näher gehandelt). Das Recht der Kapitalerhaltung ist im Kapitalgesellschaftsrecht, d. h. im AktG und im GmbHG geregelt.
Und um festzustellen, wie denn die vermögensrechtliche Lage des Unternehmens im fraglichen Zeitpunkt der Entnahme war, braucht man wieder die Vermögensaufstellung, d. h. die Bilanz, also das Bilanzrecht. Wie man sieht, sind aus Sicht der Kapitalgesellschaft ganz unterschiedliche Gesetze und sogar Rechtsgebiete „zuständig“ für die Problemlösung. Angesichts dieser „Vielfachzuständigkeiten“ fehlt es den Unternehmern wie den Juristen häufig vor allem am Überblick. Diesen will das vorliegende Werk erleichtern.
b) Warum so kompliziert?
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Gesellschaftsrecht ist im Ausgangspunkt nicht schwierig. Seine oberste Regel, zugleich genereller Leitsatz, steht in § 705 BGB. Die Gesellschafter verpflichten sich dazu, den gemeinsamen Zweck zu verfolgen und dazu ihre Beiträge zu erbringen. Betreiben die Gesellschafter ein Unternehmen, besteht der gemeinsame Zweck in aller Regel in der Gewinnerzielung. Im Kapitalgesellschaftsrecht kommt zur Verpflichtung aller auf den Zweck der Gewinnerzielung die Haftungsbeschränkung hinzu und die Möglichkeit ihres Missbrauchs. Die Beiträge werden nicht nur im Interesse der anderen Gesellschafter, sondern auch und vor allem im Interesse der Gläubiger erbracht. Aus den beiden Grundpflichten folgen letztlich auch die Details. Im Grundsatz aber geht es eigentlich nur darum, die Gesellschafter an ihre Zusagen (Zweckverfolgung, Beiträge) zu erinnern.
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Es liegt in der menschlichen Natur, dass zumindest einige ihren Verpflichtungen nicht nachkommen wollen. Dann versucht das Recht, sie zu zwingen. Das wissen die Verpflichteten. Sie stellen sich darauf ein. Kautelarjuristen helfen ihnen dabei. Die Einhaltung der Regeln wird nicht offen verweigert. Vielmehr versuchen die Verpflichteten, durch geschickte Vertragsgestaltung an ihnen vorbeizukommen. Wenn die Rechtsprechung einen solchen Versuch erkennt, sinnt sie – oft erfolgreich – auf Gegenmittel. Die einfachen Grundregeln des Gesellschaftsrechts werden detaillierter. Zu den Formulierungen des Gesetzgebers kommen neue hinzu, alles wird komplizierter.
In diesem „Spiel“ oder auch „Wettrüsten“ nimmt die Rechtsprechung eine besonders bedeutende Rolle ein. Sie vervollständigt unvollständige Gesellschaftsverträge und unvollständige Schutznormen. Das geschieht durch Auslegung oder wenn notwendig Rechtsfortbildung. Gesellschaftsrecht ist deshalb vor allem Richterrecht. Wegen der Bedeutung des Gesellschaftsrechts für die Volkswirtschaft kommt dem II. Senat des BGH durch sein Recht und seine Pflicht zur Rechtsfortbildung eine erhebliche Machtfülle zu. Diese vorausschauend auszuüben, ist seine vornehmste Pflicht.
c) Komplexität schafft Machtspielräume
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Der seinerzeitige Vorsitzende des für das Gesellschaftsrecht zuständigen II. Senats des Bundesgerichtshofs, Volker Röhricht, hat das Hauptproblem des heutigen Gesellschaftsrechts festgehalten.[1] Es sei zu kompliziert und müsse einfacher werden. Und damit meinte er nicht nur die oben beschriebene Tatsache, dass unterschiedliche Rechtsgebiete auf ein- und denselben Sachverhalt einwirken, sondern allein die Regeln des Gesellschaftsrechts selbst, die nicht nur im AktG und GmbHG stehen (sog. „black letter law“), sondern durch Richterrecht fortgebildet und durch tausende Details selbst unübersichtlich geworden sind.
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Durch komplexe, detaillierte Regeln entsteht – angesichts der unüberschaubaren Vielfalt des Lebens – neben den von den Regeln erfassten Sachverhalten fast automatisch eine noch größere Vielzahl von Lebenssachverhalten, die von den detaillierten Regeln gerade nicht unmittelbar erfasst werden. Gerade im Gesellschaftsrecht ist das aber besonders gefährlich: Denn die Lebenssachverhalte, die von einer Regelung nicht erfasst sind, lassen den handelnden Personen dann automatisch Freiräume. Die Behandlung derartiger Lebenssachverhalte außerhalb des Tatbestands einer Norm ist dann ja ungeklärt. Zwar besteht u.U. die Möglichkeit, die jeweilige Regel analog anzuwenden, aber ob das tatsächlich geschieht, ist jedenfalls bis zu einer Richterentscheidung unsicher.
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Hinter ungeklärten Rechtsfragen verbirgt sich im Gesellschaftsrecht meist seine schon aktuelle Ausfüllung durch bloße Macht. Geklärte Rechtsfragen kann man auch als Machteinschränkung begreifen, so dass Recht und Macht ein Gegensatzpaar bilden.
Beispiel:
Vorstands-Doppelmandate im Konzern (siehe Rn. 125). Nach Hüffer/Koch[2] sind diese rechtlich zulässig, aber „nicht problemfrei“. Sie sind aber weder im dogmatischen Ansatz noch im Ergebnis bewältigt. § 88 Abs. 1 S. 2 AktG schreibt vor, dass ohne Einwilligung des Aufsichtsrates ein Mitglied des Vorstand nicht zugleich Mitglied des Vorstands einer anderen Gesellschaft sein darf. Man stelle sich folgende Situation vor. Eine AG (X-AG) hat 60 % der Anteile an einer anderen (Tochter-)T-AG: Der Vorstand der X-AG bestellt den Aufsichtsrat der T-AG, dieser bestellt den Vorstand der T-AG. Kann als Vorstand der Tochter ein Mitglied des Vorstands der X-AG bestellt werden? Der Aufsichtsrat der Mutter sagt „Ja, das würde der Mutter nur nützen.“ Der Aufsichtsrat der Tochter sagt ebenfalls „Ja“, denn sonst droht ihm der Vorstand der Mutter mit seiner Abberufung. Also scheint die Doppelmitgliedschaft rechtlich möglich.
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Dahinter steht eine zunächst nicht offensichtliche Problematik. Unterstellt, der Doppel-Vorstand erfährt von einem guten Geschäft für die Tochter, das aber auch ein gutes Geschäft für die Mutter wäre. Er kann dieses Geschäft nun für die Mutter abschließen (dann erhält sie 100 % des Gewinns aus diesem Geschäft) oder für die Tochter (dann erhält sie nur 60 % des Gewinns). Was wird er wohl tatsächlich tun?
Wenn also gesagt wird, die