Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
der Demokratie wurde im Schrifttum vereinzelt darauf hingewiesen, dass es notwendig sei, im Organisationsteil der neuen Verfassung eine Bestimmung für den künftigen Beitritt Griechenlands zu den Europäischen Gemeinschaften aufzunehmen. Dabei wurde betont, dass der Beitritt eine Übertragung von Teilen der Staatsgewalt auf „supranationale“ Organisationen zur Folge haben würde, die ohne ausdrücklichen Verfassungsauftrag des Parlaments nicht zulässig sei. Außerdem wurde unter Berufung auf den Vorrang und die unmittelbare Anwendbarkeit des Gemeinschaftsrechts konkreter zu bedenken gegeben, ob in der betreffenden Verfassungsbestimmung nicht auch auf das Verhältnis zwischen dem griechischen Recht und dem Gemeinschaftsrecht Bezug genommen werden sollte.[2]
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Im Verfassungsentwurf der Regierung waren die Fragen der Einschränkungen der Ausübung der nationalen Souveränität und der „Zuerkennung“[3] von in der Verfassung vorgesehenen Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen in getrennten Artikeln und in unterschiedlichen Kapiteln geregelt: Während in Art. 29 der künftigen Verfassung die Einschränkungen der Ausübung der nationalen Souveränität (Abs. 3) zusammen mit der Frage der Änderung der Staatsgrenzen (Abs. 1) und der Aufnahme, des Aufenthalts oder des Durchzugs von fremden Streitkräften auf griechischem Staatsgebiet (Abs. 2) niedergelegt sein sollten, sollte die Zuerkennung von Zuständigkeiten, die in der Verfassung bestimmten Staatsorganen zugewiesen sind, an Organe internationaler Organisationen alleiniger Gegenstand der Bestimmung des Art. 37 sein, die im zweiten Kapitel über den Präsidenten der Republik zu finden war. Bemerkenswert ist, dass im Regierungsentwurf eine qualifizierte Mehrheit (drei Fünftel der Gesamtzahl der Abgeordneten) nur in Art. 37 Verf., d.h. nur für die Zuerkennung von Zuständigkeiten an internationale Organisationen, nicht jedoch für Souveränitätseinschränkungen nach Art. 29 Verf. vorgesehen war. Für letztere war lediglich die absolute Mehrheit der Gesamtzahl der Abgeordneten erforderlich.
b) Die Streitpunkte in der Konstituente
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Bei den Beratungen über diese beiden Vorschriften in den Parlamentsausschüssen gab es Auseinandersetzungen zwischen den Parteien, die nicht nur den künftigen Beitritt selbst, sondern auch die dafür einzuführenden Voraussetzungen und insbesondere die Frage der nationalen Souveränität betrafen. Fast völlige Übereinstimmung bestand allerdings darüber, dass die durch eine Mitgliedschaft zwangsläufig erfolgende Modifizierung der klassischen Gewaltenteilung eine spezielle verfassungsrechtliche Grundlage erforderte und dass Art. 37 des Verfassungsentwurfs über die Zuerkennung von Zuständigkeiten diesem Erfordernis entsprach.[4] Aber auch der geplante Art. 29 Abs. 3 über die Souveränitätseinschränkungen wurde als eine Bestimmung angesehen, die den aktuellen Gegebenheiten, insbesondere dem Auftreten Griechenlands im europäischen Raum, genügte.[5] Versucht man, die Streitpunkte hinsichtlich der Europabestimmungen zu kategorisieren, dann waren es die drei folgenden: die Bestimmung des Begriffs „internationale Organisationen“ (aa), die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Zuständigkeiten und Souveränitätseinschränkungen (bb) und die erforderlichen Mehrheiten für die Ratifizierungsgesetze (cc). Im Einzelnen:
aa) Der Begriff „internationale Organisationen“
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Die Diskussionen um die genauere Bestimmung der internationalen Organisationen, denen Griechenland in der Verfassung vorgesehene Zuständigkeiten zuerkennen kann, und die verschiedenen Einwände der Opposition hinsichtlich beider Bestimmungen (Zuerkennung von Zuständigkeiten und Souveränitätseinschränkungen) hatten hauptsächlich die Beziehungen des Landes zur NATO zum Hintergrund.
bb) Die Voraussetzungen für die Zuerkennung von Zuständigkeiten und für Souveränitätseinschränkungen
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Des Weiteren wurden von Abgeordneten der Opposition die in Art. 37 des Verfassungsentwurfs der Regierung für die Zuerkennung von Zuständigkeiten an Organe internationaler Organisationen vorgesehenen Bedingungen (Förderung des Weltfriedens und der Zusammenarbeit mit anderen Staaten) als zu weit beanstandet und stattdessen das Erfordernis eines wichtigen nationalen Interesses verlangt.[6] Ferner wurde die Aufnahme einer Klausel vorgeschlagen, die eine Einschränkung der parlamentarischen Entscheidungsbefugnisse und der Grundrechte in beiden Fällen (Souveränitätseinschränkungen und Zuerkennung von Zuständigkeiten an internationale Organisationen) ausdrücklich ausgeschlossen hätte.[7]
cc) Die erforderlichen Mehrheiten
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Auch die im Regierungsentwurf enthaltene differenzierte Haltung zu den erforderlichen Mehrheiten war umstritten. Die Regierung, der auch einige Abgeordnete der größten Oppositionspartei (EK-ND) zustimmten,[8] wollte für „Einschränkungen der Ausübung der Souveränität“ nach Art. 29 Verf. – zu denen auch die aus der Sicht eines Teils der Opposition umstrittenen Beziehungen Griechenlands zu der NATO zu rechnen sind – keine qualifizierte Mehrheit vorsehen. Demgegenüber bestanden andere Abgeordnete der Opposition auf der Einführung der in Art. 37 Verf. für die Zuerkennung von Zuständigkeiten vorgesehenen qualifizierten Dreifünftelmehrheit auch für Souveränitätseinschränkungen nach Art. 29 Abs. 3 Verf.[9]
c) Der erreichte Kompromiss
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Einige der oben erwähnten Änderungsvorschläge wurden von dem Parlamentsausschuss, der mit der Αusarbeitung der Verfassung von 1975 betraut war, berücksichtigt. So hat dieser in seinem an das Parlament gerichteten Bericht die in Art. 37 des Verfassungsentwurfs enthaltenen Bestimmungen über die Zuerkennung von Zuständigkeiten als Absatz 4 in Art. 29 Verf. eingefügt, wobei gleichzeitig betont wurde, dass es sich bei dem neuen Absatz nicht (nur) um eine einfache Einschränkung der nationalen Souveränität – für die (auch) die Voraussetzungen (gemeint sind hier die materiellen Grenzen von Souveränitätseinschränkungen) von Art. 29 Abs. 3 Verf. weiterhin gälten –, sondern darüber hinaus um die Zuerkennung von Zuständigkeiten handele, die in der Verfassung vorgesehen seien. Letzteres habe zur Folge, dass Organen von internationalen Organisationen die Möglichkeit eröffnet werde, im Staatsgebiet in Feldern tätig zu werden, die nach der Verfassung bestimmten staatlichen Organen zugewiesen sind. Dafür sei eine Dreifünftelmehrheit erforderlich.[10] In der Plenardebatte im Parlament wurden außerdem von Abgeordneten der Opposition die Fragen der nationalen Souveränität und der Art der internationalen Organisationen, zugunsten derer die Zuständigkeiten zuerkannt werden könnten, in den Mittelpunkt gestellt. Dabei wurde noch einmal vorgeschlagen, einen ausdrücklichen Hinweis auf den Ausschluss von Organisationen mit militärischem Charakter in Art. 29 Verf. aufzunehmen.[11] Die Debatten in der Konstituente endeten damit, dass in Art. 28 der am 7.6.1975 verabschiedeten und am 11.6.1975 in Kraft getretenen Verfassung zwei für die Europa-Frage relevante Bestimmungen aufgenommen wurden, die Folgendes besagen:
„(2) Um wichtigen nationalen Interessen zu dienen und um die Zusammenarbeit mit anderen Staaten zu fördern, ist durch Verträge oder Abkommen die Zuerkennung von Zuständigkeiten, die in der Verfassung vorgesehen sind, an Organe internationaler Organisationen zulässig. Zur Verabschiedung von Ratifikationsgesetzen für solche Verträge oder Abkommen ist eine Mehrheit von drei Fünfteln der Gesamtzahl der Abgeordneten erforderlich.
(3) Griechenland stimmt freiwillig durch ein Gesetz, das der absoluten Mehrheit der Gesamtzahl der Abgeordneten bedarf, einer Einschränkung der Ausübung seiner nationalen Souveränität zu, wenn dies ein wichtiges nationales Interesse erfordert, die Menschenrechte und die Grundlagen der demokratischen Staatsordnung nicht berührt werden und wenn es in Gleichberechtigung und Gegenseitigkeit erfolgt“.
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