Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
Auseinandersetzung
a) Die Ratifikation der europarechtlichen Verträge
10
Waren bei der Verabschiedung der Verfassung die Auseinandersetzungen um die notwendige verfassungsrechtliche Grundlage für die Mitgliedschaft noch theoretischer Natur, erwartete man, dass spätestens mit dem Beitritt die erste konkrete Diskussion zumindest hinsichtlich der anzuwendenden Verfassungsvorschrift stattfinden würde. Denn insbesondere die Frage, welche Vorschrift – Abs. 2 oder 3 des oben erwähnten Art. 28 Verf. – zu wählen sei, war angesichts der unterschiedlichen Mehrheiten, die für das Ratifikationsgesetz über die Zuerkennung von Zuständigkeiten (Abs. 2) und für dasjenige über die Souveränitätseinschränkungen (Abs. 3) erforderlich sind, von besonderer Bedeutung.
11
Wenn auch andere verfassungsrechtliche Fragen des Beitritts und der Mitgliedschaft nur am Rande der Parlamentsdebatten standen, wurde die genaue Bestimmung der anzuwendenden Verfassungsbestimmung (Art. 28 Abs. 2 Verf. oder Art. 28 Abs. 3 Verf. oder beide Vorschriften kumulativ) – ebenso wie die Vorrangsfrage – kontrovers beurteilt.[12] Im Ratifikationsgesetz zum Beitrittsvertrag war lediglich ein globaler Hinweis auf Art. 28 Verf. enthalten. Auch bei der Ratifizierung des Vertrags von Maastricht wurde die verfassungsrechtliche Perspektive sehr kurz und fast ausschließlich von der kommunistischen Partei KKE betont, die die Zuerkennung eines sehr breiten Spektrums von Zuständigkeiten an die EU als Verstoß gegen die in Art. 1 Verf. verbürgten Prinzipien der Demokratie und der Volkssouveränität beanstandete; demzufolge könne eine solche Entscheidung nicht vom Parlament allein beschlossen werden, sondern es bedürfe dazu der Durchführung eines Referendums. Dies wurde von der damaligen Regierungspartei N.D. und der größten Oppositionspartei PASOK mit einer knappen verfassungsrechtlichen Argumentation abgelehnt, während sich die linksorientierte kleinere Oppositionspartei „Synaspismos“ für die Durchführung eines Referendums mit beratendem Charakter und insbesondere für eine Verfassungsänderung ausgesprochen hatte.[13] Νoch weniger wurde auf die Verfassung bei der Ratifizierung des Amsterdamer Vertrags Bezug genommen. Die geäußerten verfassungsrechtlichen Bedenken stammten von den kleinen linksorientierten Oppositionsparteien, „Synaspismos“ und DI.K.KI, sowie von der KKE, die wiederum ohne Erfolg die Durchführung eines Referendums verlangten.[14] Schließlich wurde auch bei der kurzen und substanzlosen Parlamentsdebatte über das Ratifikationsgesetz zum Vertrag von Nizza auf die verfassungsrechtlichen Auswirkungen kein Bezug genommen.[15]
12
Die Parlamentspraxis, die bei der Ratifizierung des Beitrittsvertrags und der Änderungsverträge die Problematik möglicher Konfliktfelder zwischen dem Gemeinschafts- bzw. Unionsrecht und der griechischen Verfassung nur am Rande behandelte und sich hauptsächlich auf die Frage nach der verfassungsrechtlichen Grundlage im Hinblick auf die erforderliche Mehrheit konzentrierte, änderte sich allerdings bei der Ratifizierung des Europäischen Verfassungsvertrags (VVE) am 19.4.2005. Nachdem im zuständigen Parlamentsausschuss unterschiedliche Positionen insbesondere zu der Frage der anzuwendenden Verfassungsbestimmung unter dem Gesichtspunkt der erforderlichen Mehrheit vertreten wurden, beschäftigte sich das Plenum des Parlaments auch mit materiellen Fragen, die der VVE in Bezug auf das griechische Verfassungsrecht aufwirft, sowie mit der in der griechischen Rechtsordnung noch offen gebliebenen Vorrangsfrage.
13
Die Frage der anzuwendenden verfassungsrechtlichen Grundlage wurde vom Sonderberichterstatter der größten Oppositionspartei PASOK gestellt, der sich für eine kumulative Anwendung der Abs. 2 und 3 von Art. 28 Verf. aussprach,[16] was zur Folge gehabt hätte, dass die qualifizierte Dreifünftelmehrheit nach Abs. 2 erforderlich gewesen wäre. Demgegenüber lehnte die Regierungspartei N.D. diese Lösung ab und bestand auf der Anwendung von Abs. 3 (Souveränitätseinschränkungen) und der dort vorgesehenen absoluten Mehrheit.[17] Die Diskussion erwies sich allerdings als praktisch bedeutungslos, da der VVE von den beiden großen Parteien mit einer Mehrheit ratifiziert wurde, die die in Art. 28 Abs. 2 Verf. vorgesehene qualifizierte Dreifünftelmehrheit, d.h. 180 von 300 Abgeordneten, weit überstieg.[18] Außerdem wurde von den Oppositionsparteien (PASOK, KKE und „Synaspismos“), wenngleich mit unterschiedlicher Intensität und Begründung, die Frage der Durchführung eines Referendums in die Diskussion eingebracht und insbesondere die Frage gestellt, inwieweit das traditionell auf der Grundlage von Art. 28 Verf. durchgeführte Verfahren der Ratifizierung der Änderungsverträge auch im Falle des VVE ausreichend war. So hielt die KKE die Durchführung eines Referendums für verfassungsrechtlich geboten, da der VVE in bestimmten Bereichen die griechische Verfassung praktisch modifizieren würde, so dass entsprechend den verfassungsrechtlichen Vorgaben für eine Verfassungsänderung die Einschaltung der Wähler zwingend erforderlich sei. Genannt wurden dabei die Verfassungsbestimmung über die kostenlose Bildung auf allen Stufen sowie der angeblich weitergehende Schutz einiger sozialer Grundrechte in der griechischen Verfassung.[19] In dieselbe Richtung ging die Partei „Synaspismos“, die ebenfalls eine de facto-Verfassungsänderung durch den VVE annahm.[20] Demgegenüber schlug die PASOK die Durchführung eines Referendums nicht aus verfassungsrechtlichen Gründen vor, sondern (nur), „damit das Volk eine bewusste, vollständige und zeitgemäße Meinung über Europa bilden kann“[21].
14
Schließlich wurde in der Parlamentsdebatte unter Hinweis auf Art. I-6 VVE auch die Vorrangsfrage gegenüber der griechischen Verfassung wieder aufgegriffen, ohne jedoch auf die verfassungsrechtlichen Grundlagen der Mitgliedschaft Bezug zu nehmen. Lediglich ein Abgeordneter der KKE stellte die eher rhetorische Frage, inwieweit die griechische Verfassung eine Selbstzerstörungsklausel enthalte.[22]
15
Der Umstand, dass in Griechenland die verfassungsrechtliche Diskussion, die die Mitgliedschaft in der EU betrifft, bislang – mit Ausnahme des Ratifikationsgesetzes zum VVE – hauptsächlich von der Wissenschaft und, wenn überhaupt, in aller Regel nur oberflächlich von der Politik geführt wurde, lässt sich zum Teil mit endogenen institutionellen Faktoren erklären: Zum einen kennt die griechische Rechtsordnung keine vorbeugende Kontrolle der Vereinbarkeit von völker- und europarechtlichen Verträgen mit der Verfassung. Zum anderen wäre im Falle der Feststellung eines möglicherweise bestehenden Fehlens einer ausreichenden verfassungsrechtlichen Grundlage der Ausweg mittels einer Verfassungsänderung in der Praxis nicht möglich, da das vorgesehene Verfassungsänderungsverfahren sehr kompliziert und zeitaufwendig ist: Es verlangt außer den qualifizierten Mehrheiten im Parlament die Durchführung von Wahlen und einen Zeitabstand von fünf Jahren zwischen den Verfassungsänderungen. Das Zögern des verfassungsändernden Gesetzgebers bei der Anpassung der nationalen Verfassung an die Erfordernisse der jeweiligen Integrationsstufen ist vor allem auf diese Schwerfälligkeit des Revisionsverfahrens zurückzuführen. Dieses komplizierte Revisionsverfahren ist von einem Teil der Lehre heftig kritisiert worden, der für die Einführung des Abschlusses des Verfassungsänderungsverfahrens innerhalb ein und derselben Legislaturperiode plädiert.[23] Außer diesen rechtlichen Schwierigkeiten ist der Mangel an politischer Diskussion auch auf einen politischen Faktor zurückzuführen. Im Laufe der Zeit hat sich beim weit überwiegenden Teil der politischen Kräfte des Landes ein Konsens hinsichtlich der Teilnahme Griechenlands am Prozess der europäischen Integration gebildet, so dass politisch kein zwingendes Bedürfnis besteht, sich mit der eher theoretisch erscheinenden Frage der genauen verfassungsrechtlichen Grundlage für das Ratifikationsgesetz und weiteren bislang in der Praxis zu bewältigenden oder harmlosen „Kollisionsfällen“ zu befassen. Dies erklärt auch, warum Griechenland sowohl den Vertrag von Maastricht als auch den Vertrag von Amsterdam und den Vertrag von Nizza ohne Verfassungsänderung „überstanden“ hat, obwohl einige der neuen Regelungen dieser Verträge aus verfassungsrechtlicher Sicht zumindest als problematisch angesehen werden könnten und von der Wissenschaft hinsichtlich ihrer Vereinbarkeit mit der Verfassung auch teilweise in Frage gestellt wurden.[24]
b) Die Auseinandersetzung bei den Verfassungsänderungen von 1986 und 2001
16