Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
dass mögliche Konflikte zwischen Gemeinschaftsrecht und griechischer Verfassung eher selten sind,[47] eine These, die zumindest bis zum Vertrag von Maastricht bzw. bis zur Verfassungsrevision des Jahres 2001 auch berechtigt war. Die wenigen Konfliktfelder, die es gibt, werden eher im Bereich der Grundrechte und weniger im Bereich der Kompetenzordnung, der Souveränität und der Demokratie verortet. Während viele von diesen „Konflikten“ zum größten Teil bewältigt werden konnten (a), bestehen noch heute einige Konfliktfelder hinsichtlich der Mitgliedschaft Griechenlands in der EU (b). Schließlich scheint auch der Vorrang des Gemeinschafts- bzw. Unionsrechts gegenüber der Verfassung noch eine offene Frage zu sein (c).
aa) „Konfliktsituationen“ bis zum Vertrag über die Europäische Union
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Die den meisten Mitgliedstaaten gemeinsamen „Konfliktsituationen“ zwischen dem nationalen Verfassungsrecht und dem Gemeinschaftsrecht – so etwa die Verletzung der Souveränität oder Eingriffe in die interne Organisation des Staates[48] – hat es auch in Griechenland seit dem Beitritt gegeben.[49] Solche Schwierigkeiten bzw. „Konfliktsituationen“ konnte die Lehre, ähnlich wie in anderen Mitgliedstaaten, bis zum Vertrag über die Europäische Union mit dem vorhandenen verfassungsrechtlichen Instrumentarium bewältigen, meistens mittels einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der Verfassung oder unter Heranziehung des Prinzips der praktischen Konkordanz der einschlägigen Verfassungsbestimmungen.[50]
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Über diese allgemein bestehenden Berührungspunkte hinaus ergaben sich in Griechenland zusätzliche Schwierigkeiten, die mit Besonderheiten seiner Verfassung zusammenhängen. Als typisches Beispiel sei der in ihr garantierte Zugang zu den öffentlichen Ämtern bzw. zum Beamtentum nur für eigene Staatsbürger (Art. 4 Abs. 4 Verf.) genannt. Hervorzuheben ist, dass diese Vorschrift nach Art. 110 Abs. 1 Verf. von einer Verfassungsänderung ausgeschlossen ist. Eine zweite Regelung ist die Verfassungsvorschrift, die die Rückwirkung von Steuergesetzen nur für ein Jahr zulässt (Art. 78 Abs. 2 Verf.). Bekanntlich stellt die Rückwirkungsjudikatur des EuGH auf Vertrauensschutzerwägungen und die Erforderlichkeit der Rückwirkung, nicht aber auf eine absolute zeitliche Einschränkung der Rückwirkung ab.[51] Rechtsprechung und Lehre konnten bis jetzt die aus diesen beiden Verfassungsbestimmungen in der Praxis entstandenen Schwierigkeiten bzw. „Konfliktsituationen“ mit Lösungen bewältigen, die in der Regel auf einer gemeinschaftsrechtskonformen Auslegung der Verfassung, weniger auf einer expliziten Anerkennung des Vorrangs des Gemeinschaftsrechts gegenüber der Verfassung, beruhten. So wurde beispielsweise die Zulässigkeit des Zugangs von EG-Ausländern zu öffentlichen Ämtern damit begründet, dass das Gemeinschaftsrecht als Ganzes als eine der nach Art. 4 Abs. 4 Verf. „in speziellen Gesetzen geregelten Ausnahmen“ anzusehen sei.[52] Diese dogmatisch wenig überzeugende Begründung hat einen Teil des Schrifttums allerdings dazu veranlasst, über andere Auslegungsmöglichkeiten nachzudenken. Insbesondere wurde der Vorrang des Gemeinschaftsrechts mit den europarelevanten Vorschriften von Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. begründet, die als Klausel für eine stillschweigende Modifizierung der Verfassung im Bereich des Gemeinschaftsrechts angesehen wurden.[53] Auch die Frage der rückwirkenden Entziehung von Steuervorteilen, die vom EuGH als gemeinschaftswidrige Beihilfe qualifiziert wurden,[54] konnte vom Staatsrat und vom höchsten Verwaltungsgericht durch eine europarechtskonforme Auslegung der einschlägigen Verfassungsbestimmung gelöst werden. So hat der Staatsrat entschieden, dass die Rückforderung der gemeinschaftswidrigen Beihilfen nicht als rückwirkende Auferlegung von Steuern im Sinne von Art. 78 Abs. 2 Verf. anzusehen ist.[55] Damit konnte die Rückforderung auch Steuerbefreiungen erfassen, die lange vor der in Art. 78 Abs. 2 Verf. niedergelegten Jahresgrenze gewährt worden waren.
bb) „Konfliktsituationen“ nach dem Vertrag über die Europäische Union
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Die tiefgreifenden Einschnitte in das nationale Verfassungsrecht, die durch den Vertrag von Maastricht hervorgerufen und die in einer Reihe von Mitgliedstaaten mit Verfassungsänderungen bewältigt wurden, musste Griechenland eine Zeit lang verfassungsrechtlich „dulden“. Obwohl einige der Regelungen nach einhelliger Auffassung eindeutig gegen die Verfassung verstießen (so insbesondere die Vollendung der WWU) und andere Regelungen zumindest nach Auffassung eines nicht unbedeutenden Teils des Schrifttums ebenfalls für verfassungsrechtlich bedenklich gehalten wurden (die Verleihung des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen an Angehörige anderer Mitgliedstaaten etwa), hat der Verfassunggeber dennoch nicht rechtzeitig reagiert bzw. reagieren können, nicht zuletzt wegen des vorgesehenen komplizierten Revisionsverfahrens. Während die Rechtsprechung keinen Anlass gehabt hat, sich dazu zu äußern, hat sich die Lehre bemüht, die Vereinbarkeit einiger dieser gemeinschaftsrechtlichen Regelungen mit der griechischen Verfassung zu begründen. Dabei wurde die Untätigkeit des Revisionsverfassunggebers hinsichtlich einiger der Bestimmungen des Maastrichter Vertrags beispielsweise mit dem wenig überzeugenden Argument gerechtfertigt, dass sie keine politisch streitige Frage darstellten.[56] Auch wurde die Meinung vertreten, dass Griechenland durch die Ratifikation des Maastrichter Vertrags ohne vorherige Verfassungsänderung und „Kontrolle“ im Hinblick auf die in Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. vorgesehenen Voraussetzungen den Vorrang des Gemeinschaftsrechts auch gegenüber den mit ihm kollidierenden Vorschriften der Verfassung mittelbar akzeptiert habe. Die mit Regelungen des Maastrichter Vertrags kollidierenden Vorschriften der griechischen Verfassung seien damit unwirksam geworden.[57] Diese Auffassungen beschreiben meines Erachtens die tatsächlichen Vorgänge, vermögen sie aber nicht verfassungsrechtlich zu begründen und zu legitimieren. Die einzige verfassungsrechtlich überzeugende Begründung liefert vielmehr die Konzeption, Art. 28 Abs. 2 und 3 Verf. i.V.m. der durch die Verfassungsänderung des Jahres 2001 eingefügten Interpretationserklärung als stillschweigende Revisionsklauseln zu begreifen.
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Ebenso wenig verfassungsrechtlich vorbereitet war Griechenland auf die mit dem Amsterdamer Vertrag erfolgten weiteren Einschnitte in das nationale Verfassungsrecht bzw. in die nationale Souveränität – so beispielsweise die Übertragung von Zuständigkeiten in den Bereichen Visa, Asyl, Einwanderung und Grenzkontrollen (Art. 62f. EGV). Im Schrifttum wurden freilich einige der neuen Regelungen als verfassungsrechtlich nicht unproblematisch angesehen und entsprechende Auslegungswege aufgezeigt.[58]
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Während einige dieser „Konfliktsituationen“ im Wege der Auslegung gelöst werden konnten, musste die WWU bis zur Verfassungsänderung des Jahres 2001 einer verfassungsrechtlich akzeptablen Verankerung harren. Die Frage des aktiven und passiven Wahlrechts bei den Kommunalwahlen für Angehörige anderer Mitgliedstaaten konnte demgegenüber durch eine europarechtskonforme Auslegung der einschlägigen Verfassungsbestimmung (Art. 102 Verf.) gelöst werden, da diese Verfassungsbestimmung das Wahlrecht für die Gebietskörperschaften nicht oder zumindest nicht ausdrücklich vom Besitz der griechischen Staatsangehörigkeit abhängig macht.
b) Die noch offenen Kollisionsfragen
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Nach wie vor ist nicht auszuschließen, dass insbesondere das in Art. 78 Abs. 2 Verf. vorgesehene Rückwirkungsverbot für Steuergesetze zu Kollisionen führen könnte. Denn die dort normierte absolute zeitliche Einschränkung auf ein Jahr könnte sich als eine gemeinschaftsrechtlich irrelevante Schranke erweisen. Schwierigkeiten könnten sich auch im Hinblick auf das verfassungsrechtliche Verbot der Errichtung von Hochschulen durch Private (Art. 16 Abs. 8 Satz 2 Verf.) ergeben. Unter Berufung auf dieses Verbot i.V.m. dem verfassungsrechtlichen Gebot der öffentlich-rechtlichen Hochschulbildung (Art. 16 Abs. 5 Verf.) lehnt es der Staatsrat ab, an ausländischen Universitäten, auch solchen anderer Mitgliedstaaten, erworbene Hochschuldiplome anzuerkennen, wenn auch nur ein Teil des zugrunde liegenden Studiums in (privatrechtlich organisierten) Niederlassungen dieser Hochschulen in Griechenland absolviert wurde. Auch wenn der Bereich „Bildung“ weiterhin zu den Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten zählt, führt diese Rechtsprechung