Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
die Verfassung verstößt, nicht anzuwenden, hatten sie in dieser Phase (1953–1974)[86] der EMRK keine besondere Bedeutung beigemessen; sie hatten ihr nicht einmal eine gegenüber dem innerstaatlichen Recht ergänzende Funktion zuerkannt. Außerdem wurde die EMRK von den Gerichten nie von Amts wegen und nur dann erwähnt, wenn ihre Interpretation zur Bekräftigung von Bestimmungen, die die in der Verfassung garantierten Grundrechte einschränken, dienen konnte.
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Um dem Ausschluss wegen systematischer Verletzungen der EMRK zuvorzukommen, trat die Militärdiktatur Ende 1969 aus dem Europarat aus und kündigte die EMRK.[87] Nach der Wiederherstellung der Demokratie wurden sie und das Erste Zusatzprotokoll durch die Gesetzesverordnung 53/1974 (erneut) ratifiziert. Die nach Art. 25 a.F. EMRK[88] erforderliche Erklärung über die Anerkennung der Zuständigkeit der Europäischen Kommission für Menschenrechte (EKMR), sich mit Individualbeschwerden zu befassen, hat allerdings Griechenland erst im Jahre 1985 abgegeben.
b) Die aktuelle Rechtslage
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Der Rang, den das Völkerrecht, Gewohnheitsrecht wie auch Vertragsrecht, in der Normenhierarchie innehat, wird in der Verfassung ausdrücklich geregelt. So legt Art. 28 Abs. 1 Verf. fest, dass „die allgemein anerkannten Regeln des Völkerrechts sowie die internationalen Verträge nach ihrer gesetzlichen Ratifizierung und ihrer in ihnen geregelten Inkraftsetzung [...] Bestandteil des innerstaatlichen griechischen Rechts“ sind und dass sie jeder entgegenstehenden Gesetzesbestimmung vorgehen.[89] Somit wird der Vorrang des Völkerrechts vor den einfachen Gesetzen, nicht jedoch vor der Verfassung, angeordnet (übergesetzliche Geltung).
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Trotz der klaren Formulierung der obigen Verfassungsbestimmung wurde vereinzelt die Meinung vertreten, dass speziell die EMRK verfassungsrechtlichen Rang besitze.[90] Auch in zwei Kammerurteilen des Staatsrats,[91] die nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Maastricht ergangen sind, wurde der EMRK – wenn auch mit anderer Begründung als zuvor im Schrifttum – verfassungsrechtlicher oder sogar überverfassungsrechtlicher Rang zuerkannt. Sich auf Art. F Abs. 2 EUV a.F. berufend haben diese zwei Urteile in Betracht gezogen, dass die EMRK „dadurch, dass der Vertrag von Maastricht direkt auf sie Bezug nimmt, die Qualität primären Gemeinschaftsrechts erworben hat“. Weder die Große Kammer des Staatsrats, an die die erste Sache aufgrund der Bedeutung der aufgeworfenen Fragen verwiesen wurde, noch das Plenum, an das der zweite Fall verwiesen wurde, haben dazu jedoch Stellung bezogen; sie haben sich darauf beschränkt festzustellen, dass im fraglichen Fall keine Verletzung von Art. 5 EMRK (ebenso wie keine Verletzung des Gemeinschaftsrechts) vorlag.[92] Demgegenüber wurde in einem anderen Kammerurteil des Staatsrats ausdrücklich verneint, dass die EMRK durch die Erwähnung im Vertrag von Maastricht die Qualität von primärem Gemeinschaftsrecht erlangt haben könnte.[93] Letzterer Aussage der Kammer ist zuzustimmen. Die Bezugnahme von Art. 6 Abs. 2 EUV auf die EMRK reicht in der Tat nicht aus, um sie als Primärrecht zu qualifizieren,[94] geschweige denn als Grundlage für eine Modifizierung der Stellung der EMRK in den mitgliedstaatlichen Verfassungsordnungen. Das Plenum des Staatsrats hat auch zu dieser Äußerung keine Stellung bezogen. Es entschied, dass der fragliche Fall weder in den Geltungsbereich der EMRK noch in den des Gemeinschaftsrechts falle.[95]
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Abschließend soll erwähnt werden, dass in der den Rang des Völkerrechts bestimmenden Verfassungsvorschrift (Art. 28 Abs. 1 Verf.) eine allgemeine Klausel enthalten ist, die „die Geltung der Regeln des Völkerrechts und der internationalen Verträge für Ausländer [...] unter den Vorbehalt der Gegenseitigkeit“ stellt. Nach fast einhelliger Auffassung findet diese Einschränkung auf menschenrechtsrelevante völkerrechtliche Verträge und Abkommen, und damit auch auf die EMRK, keine Anwendung.[96]
2. Die Einbeziehung der EMRK in den nationalen Verfassungsraum
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Auch wenn die EMRK keinen Verfassungsrang besitzt, kann ihre Einbeziehung in den griechischen Verfassungsraum doch problemlos erfolgen. Auf der einen Seite erkennt die EMRK selbst, und zwar in Art. 53 (ex-Art. 60), ausdrücklich den „Anwendungs-Vorrang“ jeder (nationalen oder internationalen) Norm an, die größeren Schutz gewährleistet. Auf der anderen Seite sind Kollisionsfälle zwischen griechischer Verfassung und EMRK, d.h. Fälle, in denen die griechische Verfassung Regelungen vorsieht, die gegen EMRK-Bestimmungen verstoßen bzw. einen geringeren Schutz als die EMRK imperativ gebieten, kaum zu finden.[97] Außerdem ist im Allgemeinen davon auszugehen, dass die griechische Verfassung die Erweiterung des von ihr gewährten Schutzes grundsätzlich nicht verbietet.
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Die wenigen potentiellen „Scheinkollisionen“ können mittels Auslegung beseitigt werden. Dabei ist es irrelevant, ob man die Grundlage für eine EMRK-konforme Auslegung in Art. 25 Abs. 1 Verf. sehen will, wonach die Rechte des Menschen als Individuum und als Mitglied der Gesellschaft vom Staate gewährleistet werden und alle Staatsorgane verpflichtet sind, deren ungehinderte und effektive Ausübung sicherzustellen, oder, was vorzugswürdig ist, in der allgemeinen Klausel des Art. 2 Abs. 2 Verf., die nach dem in dem ersten Absatz garantierten Schutz der Menschenwürde die Bindung Griechenlands an das Völkerrecht proklamiert.
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Versucht man die Bereiche zu ermitteln, in denen die EMRK bzw. ihre Interpretation und Anwendung durch den EGMR einen größeren Schutz zu gewährleisten scheinen, dann kommt man zu folgenden Feststellungen:
– | Während Art. 11 EMRK die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit als Jedermannrechte garantiert, werden diese Grundrechte in Art. 11 Abs. 1 und 12 Abs. 1 Verf. als Griechenrechte gewährleistet. Aus diesen Verfassungsbestimmungen kann allerdings kein zwingendes Verbot abgeleitet werden, Ausländern dieselben Rechte auf unterverfassungsrechtlicher Ebene zuzuerkennen. |
– | Die von der ständigen Rechtsprechung vertretene sehr enge Auslegung des verfassungsrechtlichen Eigentumsbegriffs, unter den nur dingliche Rechte, nicht hingegen Forderungen subsumiert werden,[98] schließt zunächst eine anders lautende Auslegung nicht aus und verbietet jedenfalls nicht die Gewährung eines weiteren Schutzes auf unterverfassungsrechtlicher Ebene, wie den des Art. 1 1. ZP-EMRK, der das „Vermögen“ insgesamt schützt. |
– | Ebenso hindert die Weigerung der griechischen Gerichte, eine Entschädigung für enteignungsgleiche Eingriffe („de facto-Enteignung“ nach griechischer Terminologie) aufgrund der Verfassung anzuerkennen, nicht die Anerkennung dieser Entschädigung unter Berufung auf Art. 1 Abs. 1 1. ZP-EMRK und die diesbezügliche EGMR-Rechtsprechung. |
– | Auch das Fehlen einer ausdrücklichen Gewährleistung des Erbrechts und des geistigen Eigentums in der griechischen Verfassung stellt kein Hindernis dar, die diesbezüglichen Garantien des 1. ZP-EMRK in der griechischen Verfassungsordnung gelten zu lassen. |
– | Einen weiteren Schutz als die griechische Verfassung – insbesondere die in Art. 20 Verf. garantierten Rechte auf Rechtsschutz und auf rechtliches Gehör, wie sie von der Rechtsprechung ausgelegt und angewandt und vom Gesetzgeber konkretisiert werden – gewährt hinsichtlich einer Reihe von Fragen die Bestimmung des Art. 6 EMRK, wie sie durch den EGMR interpretiert und angewandt wird.[99] Angesichts des Umstandes, dass die konkreten Ausformungen der obigen Verfassungsbestimmungen nicht imperativ geboten sind, sondern revisible Entscheidungen des Gesetzgebers oder Auslegungen der Rechtsprechung darstellen, handelt es sich hierbei nicht um Kollisionsfälle zwischen EMRK und griechischer Verfassung. |
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