Handbuch Ius Publicum Europaeum. Adam Tomkins
vorgesehen sind, an Organe internationaler Organisationen“ (Abs. 2) und die „Einschränkung der Ausübung der nationalen Souveränität“ (Abs. 3) regeln. Diese Vorschriften sichern i.V.m. dem ersten Absatz desselben Artikels, der die Stellung des Völkerrechts in der griechischen Rechtsordnung bestimmt, die Öffnung der griechischen Rechtsordnung verfassungsrechtlich ab. Da sie allerdings von Anfang an gesetzestechnisch recht problematisch waren, haben sie zu Auslegungsschwierigkeiten geführt.[35] Bereits die Lektüre beider Vorschriften fördert den paradoxen Befund zu Tage, dass die Zuerkennung oder Übertragung von Zuständigkeiten gemäß Art. 28 Abs. 2 Verf. zwar an die gewichtige formelle Voraussetzung der für eine Verfassungsänderung vorgesehenen Dreifünftelmehrheit geknüpft ist, aber anders als bei mit nur absoluter Mehrheit möglichen Einschränkungen der nationalen Souveränität (Art. 28 Abs. 3 Verf.) keine materiellen Schranken kennt. Deshalb ist es leicht verständlich, dass es sowohl in der Politik als auch insbesondere in der Wissenschaft Streit darüber gegeben hat, welche dieser beiden Vorschriften im Falle des Beitritts oder der Änderungsverträge anzuwenden ist. Wenn man darüber hinaus bedenkt, dass im griechischen Schrifttum vereinzelt[36] ebenso wie teilweise in der Politik[37] auch die Meinung vertreten wird, dass für bestimmte EG/EU-Verträge auch eine Anwendung von Art. 28 Abs. 1 Verf. allein in Betracht komme – dieser regelt u.a. die Stellung der (normalen) völkerrechtlichen Verträge in der griechischen Rechtsordnung und verlangt für das Ratifikationsgesetz die absolute Mehrheit lediglich der anwesenden Parlamentsmitglieder –, dann liegt es auf der Hand, dass die genaue Bestimmung der verfassungsrechtlichen Grundlage für die Beziehungen zwischen dem griechischen Verfassungsrecht und dem Unionsrecht von besonderer Bedeutung ist. Als herrschend kann heute die Meinung angesehen werden, die sich unter Hinweis insbesondere auf eine teleologische Auslegung für die kumulative Anwendung der Voraussetzungen beider Vorschriften ausspricht.[38] Zudem sei angemerkt, dass die Anwendung von Abs. 1 allein zwangsweise dazu führen würde, einigen europarechtlichen Verträgen den dem (normalen) Völkervertragsrecht kraft dieser Verfassungsvorschrift zukommenden (schlichten) übergesetzlichen Rang zu verleihen. Ohne dass die damit zusammenhängenden Konsequenzen hier vertieft werden könnten, erscheint diese Meinung auch aus diesem Grunde nicht stichhaltig.
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Der politische Streit um die verfassungsrechtliche Grundlage, der bereits bei der Ratifizierung des Beitrittsvertrags im Parlament zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien geführt hat,[39] flammt – insbesondere im Hinblick auf die erforderliche Mehrheit – immer wieder auf, wenn es darum geht, europarechtliche Verträge zu ratifizieren. Bemerkenswert ist allerdings, dass in der Praxis alle Ratifikationsgesetze bis heute mit einer Mehrheit beschlossen worden sind, die die von Art. 28 Abs. 2 Verf. verlangte Dreifünftelmehrheit überstieg, in den meisten Fällen sogar weit darüber lag. Wie die Ratifikation des VVE gezeigt hat, bleibt aber die Frage offen. Dennoch zeigt die Entstehungsgeschichte, dass in der Konstituente von 1975 Übereinstimmung zwischen den Parteien darüber bestand, dass die für die Mitgliedschaft erforderliche verfassungsrechtliche Grundlage die Bestimmung des Art. 37 nach dem Verfassungsentwurf der Regierung bilden sollte, der die Zuerkennung von Zuständigkeiten regelte und dem heutigen Art. 28 Abs. 2 Verf. entspricht.[40] Auf der anderen Seite kann dem Bericht des zuständigen Parlamentsausschusses entnommen werden, dass die für Souveränitätseinschränkungen vorgesehenen materiellen Grenzen auch für die Zuerkennung von Zuständigkeiten gelten sollten, für die allerdings eine Dreifünftelmehrheit erforderlich ist. Die historische Auslegung erlaubt somit die Feststellung, dass bereits in der Konstituente eine kumulative Anwendung beider Vorschriften zumindest ins Auge gefasst war. Wie auch immer man zu der Frage der kumulativen Anwendung beider Vorschriften stehen mag, jedenfalls wurde von Anfang an in Politik und Wissenschaft nicht grundsätzlich angezweifelt, dass die in Art. 28 Abs. 3 Verf. für Einschränkungen der Souveränitätsausübung vorgesehenen materiellen Voraussetzungen bzw. Grenzen nicht nur für den Beitritt, sondern auch für die Mitgliedschaft und künftige Integrationsschritte gelten sollen. Diese Haltung ist auch logisch, da die Mitgliedschaft als solche mit Einschränkungen der Souveränitätsausübung verbunden ist.
bb) Die Ergänzung der Grundlagen – insbesondere die „Interpretationserklärung“ zu Art. 28 Verf.
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Durch die Revision des Jahres 2001 ist einigen Integrationsschritten, die aus verfassungsrechtlicher Sicht fragwürdig waren, insbesondere der Beteiligung an der WWU, nachträglich eine spezifische verfassungsrechtliche Grundlage verschafft worden. So wurde Art. 80 Verf. um eine so genannte „Interpretationserklärung“ ergänzt, die ausdrücklich klarstellt, dass „Absatz 2 [...] einer Beteiligung Griechenlands an den Verfahren der Wirtschafts- und Währungsunion im weiteren Rahmen der europäischen Integration gemäß den Regelungen des Art. 28 nicht entgegen [steht]“. In ähnlicher Weise wurde dem die gesetzgeberische Tätigkeit des Parlaments regelnden Art. 70 Verf. ein neuer Abs. 8 hinzugefügt, der eine Informations- und Diskussionspflicht der Regierung gegenüber dem Parlament über die Fragen vorsieht, „die im Rahmen der Europäischen Union Gegenstand normativer Regelung sind“. Darüber hinaus wurde in Art. 28 Verf. eine neue Bestimmung in Form einer „Interpretationserklärung“ eingefügt, die in sibyllinischer Weise feststellt, dass „Artikel 28 […] die Grundlage für die Beteiligung des Landes an den Verfahren der europäischen Vollendung“[41] bildet.
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Letztere Verfassungsbestimmung ist teilweise kritisiert worden. Es wurde zunächst angezweifelt, ob sie überhaupt eine „Interpretationserklärung“ im Sinne des Wortes darstellt. Art. 28 Verf. war nämlich von Anfang an unbestritten die verfassungsrechtliche Grundlage für die Beziehungen Griechenlands zu den Gemeinschaften; fraglich war lediglich der für die verschiedenen Integrationsschritte jeweils anzuwendende Absatz. Eine ausdrückliche Antwort auf diese Interpretationsfrage vermag die neue Vorschrift nicht zu geben,[42] es sei denn, man interpretiert sie dahin, dass sie stillschweigend und mittelbar die kumulative Anwendung beider Vorschriften über die Zuerkennung von Zuständigkeiten und über Souveränitätseinschränkungen fordert.[43] Außerdem vermag sie keine Klarheit über die zumindest theoretisch noch in der griechischen Rechtsprechung und Lehre umstrittene Frage nach der Stellung des Unionsrechts gegenüber der Verfassung[44] zu schaffen. Nicht zuletzt muss angemerkt werden, dass mit dieser Vorschrift Griechenland als soweit ersichtlich einziger Mitgliedstaat die „Vollendung“ der europäischen Konstruktion vorauszusagen und seine quasi bedingungslose Teilnahme an der weiteren Integration verfassungsrechtlich abzusichern scheint. Wie den Parlamentsdebatten über das Ratifikationsgesetz zum VVE zu entnehmen ist, scheint allerdings die obige Interpretationserklärung von den Politikern als eine ausreichende Grundlage für diesen Vertrag und weitere Integrationsstufen angesehen zu werden.[45]
b) Konsequenzen aus der spezifischen Form der Öffnung und der Absicherung
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Der Umstand, dass die Grundlage für die Öffnung der nationalen Rechtsordnung in Art. 28 Verf. lokalisiert wird, der ein (formelles) Gesetz verlangt, hat zur Folge, dass europarechtliche Verträge nur über ein Ratifikationsgesetz in die griechische Rechtsordnung Eingang finden und Teil des in Griechenland zu beachtenden Rechts werden können. Bemerkenswert ist, dass nach der griechischen Verfassung die Ratifizierung internationaler Verträge nicht einmal Gegenstand einer gesetzlichen Ermächtigung sein kann (Art. 36 Abs. 4 Verf.). Ein anderer Weg, etwa mittels eines Referendums, würde demzufolge verfassungsrechtlich nicht ausreichen, auch unter Berücksichtigung der Tatsache nicht, dass in der griechischen Verfassung das Referendum als Institution vorgesehen ist.[46]
4. Die aus der Sicht des griechischen Verfassungsrechts bestehenden Konfliktfelder hinsichtlich der Mitgliedschaft in der EU
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Im Laufe der Mitgliedschaft Griechenlands ergaben sich echte oder scheinbare Kollisionsfälle zwischen griechischem Verfassungsrecht und Gemeinschaftsrecht, die entweder auf bereits von Anfang an bestehende Eigenheiten